Marina Petrella gehört zu jenen Ex-Terroristen und Ex-Terroristinnen, die nicht nach Italien ausgeliefert werden.

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Fast alle der zehn ehemaligen Terroristen, die nun weiterhin in Frankreich bleiben dürfen, befinden sich in einem Alter, in dem sich die meisten Italiener und Franzosen längst im Ruhestand befinden und sich an ihren Enkeln erfreuen: Der jüngste der Ex-Terroristen ist 61-jährig, der älteste hat 78 Lenze auf dem Buckel. Auch ihre Bluttaten liegen weit zurück: Die Verhafteten mordeten und bombten in den den "bleierner" 1970er- und 1980er-Jahren, in den "anni di piombo". Damals hatten in Italien linke und rechte Terroristen dem Staat den Krieg erklärt – insgesamt fielen dem Terror in Italien 370 Menschen zum Opfer, darunter 59 Polizisten und Carabinieri, acht Richter, sechs Politiker und zwei Journalisten. Über tausend Personen wurden verletzt.

Die italienische Justiz ermittelte damals gegen mehr als 4.000 mutmaßlich Links- und 2.000 Rechtsterroristen. Tausende wanderten hinter Schloss und Riegel; die meisten haben ihre Strafe längst verbüßt. Aber: Etwa 200 italienische Linksterroristen konnten sich nach Frankreich absetzen, wo ihnen der damalige sozialistische Staatspräsident François Mitterrand ab 1985 großzügig "politisches Asyl" gewährte.

Umstrittene Begründung

Nicht nur das Asyl als solches war von Rom stets als Provokation empfunden worden, sondern auch die Begründung: Die in Italien gesuchten Terroristen könnten in ihrer Heimat nicht mit einem fairen Prozess rechnen, da die italienische Justiz – unter anderem mit einer Kronzeugenregelung – grundlegende rechtsstaatlichen Prinzipien verletzte. Rom konnte diese Einwände nie nachvollziehen.

Das in Italien "Mitterand-Doktrin" genannte Terroristenasyl hat die Beziehungen zwischen Rom und Paris jahrzehntelang belastet, und für die Angehörigen der Mordopfer war es unerträglich, dass die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen werden konnten. Erst der aktuelle französische Staatspräsident Emmanuel Macron hat mit dieser Doktrin gebrochen: Im April 2021 ließ Justizminister Eric Dupond-Moretti auf Geheiß Macrons sieben ehemalige Mitglieder der Roten Brigaden und der Organisation Lotta Continua in Auslieferungshaft nehmen.

Drei weitere konnten sich der Festnahme entziehen, wurden aber später verhaftet beziehungsweise haben sich den Behörden gestellt. Paris betonte, die Verhaftungen seien in Absprache mit Rom erfolgt. "Frankreich, das ebenfalls vom Terrorismus hart getroffen worden ist, begreift das absolute Bedürfnis der Opfer des Terrorismus nach Gerechtigkeit", ließ Macron verlauten.

Gericht sagt Nein

Nur: Der französische Staatspräsident konnte zwar die Verhaftung der Ex-Terroristen verfügen, aber den Entscheid über deren Auslieferung fällte die von der Politik unabhängige Justiz. Und diese entschied nun, dass die pensionierten Terroristen in Frankreich bleiben dürfen. Die Begründung war wieder die ursprüngliche: In Italien hätten die zehn ehemaligen Terroristen, die in ihrer Heimat in Abwesenheit rechtskräftig zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt worden waren, keine ausreichenden Garantien für ein faires Verfahren.

Das Urteil hat in Italien harsche Reaktionen ausgelöst. Der Chef der rechtspopulistischen Lega und ehemalige Innenminister Matteo Salvini bezeichnete den Entscheid des französischen Gerichts als "abscheuliche Schande"; Giorgia Meloni, Chefin der postfaschistischen Partei Fratelli d'Italia, sprach ebenfalls von einem "inakzeptablen und schändlichen Urteil". Der ehemalige oberste Staatsanwalt Italiens, Gian Carlo Caselli, erklärte zwar, dass er den Entscheid der französischen Richter respektiere. Es falle ihm aber schwer, in dem Urteil nicht alte antiitalienische Vorurteile zu erkennen: Italien sei in den Augen der französischen Justiz wohl immer noch eine faschistische Diktatur, erklärte Caselli in der Zeitung "La Stampa".

Dass die ehemaligen Terroristen nach ihrer Flucht nach Frankreich nicht mehr straffällig geworden seien und sich in die französische Gesellschaft integriert hätten, könne nicht als Argument gegen ihre Auslieferung dienen, betonte Caselli: "Man kann zwar Ex-Terrorist werden, aber nicht Ex-Mörder." (Dominik Straub aus Rom, 30.6.2022)