Tatsächlich hat Bundeskanzler Karl Nehammer die österreichische Neubewertung der Beziehungen zur Türkei bereits vor zweieinhalb Monaten öffentlich verkündet: Nur galt damals das einzige Interesse dem, was er über das Treffen mit Präsident Wladimir Putin in Moskau zu sagen hatte. Was unterging, auch weil es ziemlich verschwurbelt daherkam, war Nehammers plötzliche Würdigung des geostrategischen Gewichts der Türkei unmittelbar nach dem Besuch. Mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte der Kanzler gleich zweimal, vor und nach seinem Gespräch mit Putin, telefoniert.

Kanzler Nehammer und der türkische Präsident Erdoğan beim NATO-Gipfel in Madrid.
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Nehammer bezog sich vor allem auf die wachsende Bedeutung der Türkei als mögliches Transitland für Gas aus dem Kaspischen Meer. Aber es ist eine ganze Reihe von Gründen – unter anderem das europäische Flüchtlingsmanagement –, die Erdoğan seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine ein neues Ansehen auf der internationalen Bühne verliehen haben. Und der macht davon geschickt und lustvoll Gebrauch.

Dass er in der Nato das Veto gegen Finnland und Schweden fallenließ, wird ihm auch von Washington vergolten werden. Auch aus Paris kommen anstelle von Erdo-Bashing neuerdings Schalmeienklänge. Israel und die Araber normalisieren ihre Beziehungen mit Ankara. Die Österreicher liegen also voll im Trend. Das nennt man Realpolitik. Zumindest im Moment geht Erdoğans Pokerspiel zwischen Ukraine-Unterstützung und Russland-Beschwichtigung voll auf. (Gudrun Harrer, 30.6.2022)