Die Impfquote ist in Österreich im internationalen Vergleich eher niedrig, das erklärt zum Teil die hohe Sterblichkeit.

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Der Schweizer Käse ist zu einem epidemiologischen Sinnbild geworden: Jede löchrige Käsescheibe steht für eine Maßnahme. Mit dem Bild erklärt der australische Virologe Ian Mackay, wie sich einzelne Corona-Maßnahmen wie Impfung, Kontaktverfolgung und Maske sinnvoll addieren können. Keines der bislang verfügbaren Mittel kann allein vollkommenen Schutz bieten. Aber viele verschiedene Maßnahmen, die – eben so wie Schweizer Käse – nicht perfekt und ein bisschen löchrig sind, können den Schutz vor dem Virus verbessern.

Welche Maßnahme in den bereits zweieinhalb Pandemiejahren wie gut gewirkt hat, wie viele Menschenleben die Masken gerettet oder wie viele Hospitalisierungen die Ausgangssperren verhindert haben, sind Fragen, die nur schwierig zu beantworten sind. In Deutschland möchte man sich der Antwort zumindest annähern. Diesen Freitag wird ein eigens eingerichteter Sachverständigenausschuss einen rund 150 Seiten langen Bericht veröffentlichen, der die Corona-Maßnahmen von Bund und Ländern evaluiert. 19 Wissenschafterinnen und Wissenschafter haben an der Analyse gearbeitet.

Nicht lange nachdem der Bundestag den Einsatz eines solchen unabhängigen Gremiums im Frühjahr 2021 beschlossen hatte, gab es aber auch schon Kritik daran. Die Zusammensetzung der Fachleute sei parteipolitisch und nicht wissenschaftlich motiviert, hieß es etwa. Unter den 19 Expertinnen und Experten fänden sich zu viele juristische Fachleute, wo doch die Basis eine epidemiologische sein solle.

Strenge Maßnahmen, hohe Sterblichkeit

Für Gerald Gartlehner, Epidemiologe an der Donau-Universität Krems, ist das Jammern auf hohem Niveau. In Österreich ist man von wissenschaftlicher Aufarbeitung noch weiter entfernt, kritisiert er: "Bei uns wird das nicht einmal angedacht. Es gibt keine Diskussion darüber, das Pandemiemanagement evaluieren zu lassen. Das fehlt mir in Österreich völlig." Österreich hatte laut Gartlehner in vielen Bereichen strengere Maßnahmen als vergleichbare Länder, schneidet aber in Bezug auf Übersterblichkeit oder Lebenserwartung nicht besser ab.

Das sieht man am sogenannten Stringency Index. Eine von der Universität Oxford entwickelte Kennzahl, die mittels Punktesystem die Strenge der Maßnahmen international vergleichbar machen soll. Der Index hat zwar seine Schwächen, etwa die für die Bewertung herangezogenen Daten. So bezieht sich der Stringency Index immer auf die strengsten Maßnahmen des Landes, auch wenn etwa ein regionaler Lockdown nur in ein paar wenigen Dörfern oder Bezirken galt. Trotzdem lässt sich aus der Kennzahl zumindest eine Tendenz ablesen – und die zeigt nach gut zwei Jahren Pandemie: Österreich hatte zeitweise sehr strenge Maßnahmen, trotzdem sind hierzulande mehr Menschen an Corona verstorben als etwa in den Nachbarstaaten Deutschland oder Schweiz: "Eine Diskrepanz, die uns zu denken geben sollte", findet Gartlehner.

"Viel falsch gelaufen" im Pandemiemanagement

Woran das liegt, darüber können Fachleute nur spekulieren. "Es gibt viele unterschiedliche Faktoren. In vielen Bereichen liegt es an politischen Entscheidungen und daran, dass häufig unsinnige Dinge beschlossen wurden, die dann wiederum die Bevölkerung frustriert haben", sagt Gartlehner. Das habe zu einer Negativspirale geführt, viele Menschen seien von der Kommunikation der Regierung nicht mehr erreicht worden – kurz: "Es ist viel falsch gelaufen in der Pandemiebewältigung."

Dorothee von Laer, Virologin von der Med-Uni Innsbruck, schließt sich der Kritik teilweise an. Vor allem die Delta-Welle markiere einen Tiefpunkt im Pandemiemanagement: "Da wurde lange zugewartet, bevor Maßnahmen ergriffen wurden. Wir hatten in der Folge die höchsten Inzidenzen in ganz Europa und damit auch die höchste Übersterblichkeit", sagt von Laer.

Auf den Herbst 2021 habe man sich laut der Virologin nicht vorbereitet. Dabei sei die Ausgangslage hierzulande besser als in anderen Ländern gewesen, in Österreich wurde im Laufe der Pandemie verhältnismäßig viel getestet: "Damit haben wir wahrscheinlich eine geringere Dunkelziffer."

Aber – und das sei wohl entscheidend für schwere Verläufe und daraus resultierende Todesfälle: "Bei der Impfquote liegen wir im unteren Drittel, das erklärt zum Teil die hohe Sterblichkeit", sagt von Laer.

Skandinavische Länder seien laut von Laer deutlich besser durch die Pandemie gekommen. Zwar kritisierten unabhängige Fachleute in einer im Fachjournal "Nature" publizierten Studie unlängst den schwedischen Weg der Pandemiebekämpfung, aber zumindest die Kommunikation habe wohl besser funktioniert. "In Österreich dachten sich viele 'Ich mach da einfach nicht mehr mit!', wenn die Regierung etwas verkündete", beschreibt Gartlehner den "Teufelskreis", in den man hierzulande gekommen sei. In skandinavischen Ländern hingegen gebe es kaum Anti-Maßnahmen-Demos oder generell Menschen, die Corona leugnen, betont von Laer.

Das ist wohl nur eine logische Folge der im Verhältnis geringen Wissenschaftskompetenz der Österreicherinnen und Österreicher. Traditionell schneidet Österreich bei Umfragen zur Ein- und Wertschätzung von Wissenschaft und Technologie im internationalen Vergleich schlecht ab. In einer Umfrage ist Österreich im EU-Vergleich fast Schlusslicht, wenn es um Interesse an und Vertrauen in Wissenschaft geht. Auf die Frage, welche Auswirkung Biotechnologie und Gentechnik in den nächsten 20 Jahren haben werden, waren die österreichischen Einschätzungen die negativsten unter allen Bewohnerinnen und Bewohnern der 27-EU-Länder (DER STANDARD berichtete). "Dazu kommt, dass in Österreich die Skepsis gegenüber der Politik und den Regierenden im Vergleich zu skandinavischen Ländern viel größer ist", sagt Gartlehner.

Länder wie Italien, die anfangs sehr hart von Corona getroffen wurden, haben sich laut von Laer später deutlich besser an Maßnahmen gehalten. In Österreich, wo viele ohnehin wissenschaftsskeptisch eingestellt sind, hätte man besser kommunizieren und kontrollieren müssen, sagt die Virologin: "Die besten Maßnahmen nützen nichts, wenn sie nicht eingehalten oder kontrolliert werden." Zu Beginn der Pandemie sei die Einhaltung der Maßnahmen noch sehr gut kontrolliert worden, später nahezu gar nicht mehr.

Viele Tests, aber schlechte Daten

Um künftig das Infektionsgeschehen besser abschätzen und dementsprechend Maßnahmen setzen zu können, plädiert von Laer für bessere Daten. Es brauche eine repräsentative Kohorte, die regelmäßig auf das Virus und die Antikörper getestet wird. Das würde einen vernünftigen Überblick liefern, wie viel Prozent der österreichischen Bevölkerung schon eine gewisse Basis-Immunität haben. "Dass man bei all den Milliarden, die in der Pandemie ausgegeben wurden, immer noch nicht weiß, wie hoch die Immunität in der Bevölkerung ist und die Politik nach wie vor im Blindflug unterwegs ist, finde ich armselig", kritisiert die Virologin.

Umso wichtiger wäre es auch laut Gartlehner, dass die letzten zwei Jahre "wissenschaftlich und emotionslos" evaluiert werden: "Auch weil unser Pandemieplan und das alte Pandemiegesetz irgendwann dringend überarbeitet werden sollten und diese Ergebnisse mit einfließen könnten."

Bisher ortet er dafür allerdings keine Bereitschaft. Er nehme in diese Richtung nicht einmal Signale wahr: "Dabei könnte man aus den zweieinhalb Jahren sehr viel lernen, damit die nächste Pandemie in Österreich besser bewältigt werden kann." (Magdalena Pötsch, 1.7.2022)