Neueste Satellitenbilder von der Schlangeninsel nahe dem Donaudelta im Schwarzen Meer legen den Abzug der russischen Armee nahe.

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Wolodymyr Selenskyj sprach am Donnerstagabend via Videoschaltung zum ersten Mal seit Kriegsbeginn live in Österreich – im Rahmen des 4Gamechangers-Festivals in Wien. Vor einem Gespräch mit Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen und Bundeskanzler Karl Nehammer warnte der ukrainische Präsident davor, dass Russland mit seiner Exportblockade eine Hungersnot und folglich einen "Migrationstsunami" auszulösen drohe.

Selenskyj sprach auch die täglichen Preissteigerungen und die zu lange Abhängigkeit Europas in Energiefragen an. Der Ukraine-Krieg biete die Chance, die überfällige Einheit Europas tatsächlich umzusetzen und die Cyberabwehrkapazitäten auszubauen. Ebenso sei es "lebenswichtig", das Völkerrecht zu stärken und zu leben. "Wenn das Recht nur auf dem Papier bleibt, hat die Welt mit tausenden Aggressionen mehr zu rechnen", sagte der ukrainische Präsident.

Weitere Angriffe drohen

"Russland will keinen Dialog führen, sondern versteht nur die Sprache des Krieges", fügte Selenskyj hinzu. Er habe anfangs versucht, mit Putin zu sprechen, aber dieser habe mit täglichen Raketenangriffen geantwortet. "Wenn bewaffnete Menschen in Ihr Haus einbrechen, Ihre Verwandten vergewaltigen", müsse man kämpfen und seine Heimat verteidigen, sagte Selenskyj. "Nach der Ukraine kommen weitere Staaten", warnte er.

Man müsse immer überlegen, mehr zu tun, sagte Van der Bellen. "Auch unsere Freiheit wird in der Ukraine verteidigt", weshalb es fahrlässig wäre, der Ukraine nicht beizustehen. "Das wäre unterlassene Hilfeleistung", sagte der Bundespräsident, machte aber klar, dass Österreichs Hilfe nur humanitärer und nicht militärischer Natur sein kann – und schließlich habe man nicht mal hierzulande ein ausreichend gut ausgestattetes Heer. Auch hier gelte es nachzurüsten – ebenso beim Budget für die österreichische Diplomatie. Was Putin in der Ukraine mache, erinnere an die Kolonialkriege des 19. Jahrhunderts. Putin erkenne nicht, dass sich die Ukraine verändert und Europa angenähert habe, so Van der Bellen.

Keine Balance zwischen Gut und Böse

Es brauche jedenfalls die Unterstützung Österreichs und auch eine Ausweitung der Sanktionen, so Selenskyj. Er bat Österreich, seine Anstrengungen vor dem siebten Sanktionspaket zu verdoppeln. Nach dem Krieg sei es wichtig, dass die Ukraine sich als gleichberechtigter Staat in der europäischen Familie einfindet, sagte Selenskyj. Zuvor gelte es aber, dass die Welt gegen die Autokratie aufbegehrt. Es gehe nicht um Neutralität oder Paktfreiheit, man dürfe nicht Balance zwischen Gut und Böse finden. Man soll nur eine Seite annehmen, "die Seite des Lichts", dann könne der Sieg möglich sein. Mit den Worten "Es lebe die Ukraine" beendete Selenskyj seine Ansprache.

Vor Selenskyj betonte der Schauspieler und Aktivist George Clooney die Bedeutung von forensischer Beweissammlung in Konfliktsituationen. Noch vor Clooney hielt Justizministerin Alma Zadić eine Rede zur Bedeutung von Menschenrechten. Sie geißelte den "brutalen Angriffskrieg" Russlands und machte darauf aufmerksam, dass man sich erkämpfte Rechte niemals mehr nehmen lassen dürfe, egal wie sehr sich autoritäre, nationalistische oder illiberale Mächte dafür starkmachten. "Dem Recht des Stärkeren muss die Stärke des Rechts entgegengebracht werden", sagte die Justizministerin.

Österreich "kein sicherheitspolitischer Trittbrettfahrer"

Nach Selenskyj und Van der Bellen wurde schließlich auch noch Bundeskanzler Nehammer zum Krieg in der Ukraine interviewt. "Wir leben in der Zeit der Irritationen und nicht mehr in einer Zeit der Fakten", sagte dieser. Österreich sei durch seine Teilnahme an Friedensmissionen ein "aktiver Sicherheitsgestalter", kein Trittbrettfahrer in sicherheitspolitischen Fragen, betonte Nehammer.

Dem Kanzler zufolge schaue man sich aktuell nach Alternativen bezüglich der Energieversorgung um. Das gehe nicht von heute auf morgen. "Ja, das ist eine Wunde, aber ich kann sie nicht schließen, solange ich nicht die Versorgungssicherheit Österreichs garantieren kann", sprach er den sich im Publikum befindenden ukrainischen Botschafter direkt an.

Was sonst noch am Donnerstag in der Ukraine geschah: Das Bild eines ukrainischen Soldaten, der auf der strategisch wichtigen Schwarzmeerinsel Smijinyj – auch als Schlangeninsel bekannt – steht und ein russisches Kriegsschiff mit Flüchen belegt, ging zu Beginn des Krieges um die Welt. Sogar eine Briefmarke mit dem Sujet brachte die ukrainische Post in Umlauf. Nun haben die russischen Truppen das Eiland geräumt.

  • Schlangeninsel geräumt Dies bestätigten am Donnerstag sowohl das Verteidigungsministerium in Moskau als auch Andrij Jermak, ein Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Während Moskau von einer "Geste des guten Willens" spricht, mit der im Streit um sicherere Korridore für ukrainische Weizenlieferungen beschwichtigt werden soll, lobt Jermak den Kampf der ukrainischen Armee: "Unsere Streitkräfte haben ganze Arbeit geleistet."

  • Schwere Kämpfe im Osten Im Donbass dauerten am Donnerstag die schweren Kämpfe um die strategisch wichtige Stadt Lyssytschansk an. Die russische Armee versuche mit Unterstützung der Artillerie, die Stadt zu blockieren, teilte der ukrainische Generalstab in seinem Lagebericht mit. Angriffe gebe es rund um die Ölraffinerie der Stadt. "Die Kämpfe gehen weiter."

  • Putin zufrieden Mehr als vier Monate nach Beginn seines Angriffskrieges gegen die Ukraine gibt sich Kreml-Chef Wladimir Putin zufrieden mit dem Fortgang der Invasion: "Die Arbeit läuft ruhig, rhythmisch, die Truppen bewegen sich und erreichen die Linien, die ihnen als Etappenziele vorgegeben wurden", sagte Putin am Mittwoch zu russischen Journalisten in der turkmenischen Hauptstadt Aschgabat. "Alles läuft nach Plan", zitierte ihn die russische Nachrichtenagentur Tass. Einem baldigen Ende des Krieges erteilte er eine Absage: "Es wäre falsch, irgendwelche Fristen zu setzen."

  • Verhandlungen zu Kaliningrad Der Streit zwischen Russland und Litauen über das Verbot des Transits von bestimmten Waren in die russische Exklave Kaliningrad könnte Insidern zufolge in wenigen Tagen beendet werden. Derzeit verhandeln Vertreter der EU mit Litauen über das Aussetzen des Transitverbotes, sagten zwei mit dem Vorgang vertraute Personen. Gleichzeitig übte allerdings Litauens Präsident Gitanas Nausėda erneut Kritik an Russland. Moskau hatte der Baltenrepublik wegen der "Blockade" mit Konsequenzen gedroht.

  • EU will Oligarchen notfalls enteignen Die Enteignung russischer Oligarchen, die versuchen, EU-Sanktionen zu unterlaufen, rückt näher. Die ständigen Vertreterinnen und Vertreter der EU-Staaten in Brüssel stimmten dem Vorschlag zu, derlei Versuche EU-weit als Straftat zu definieren. Die Zustimmung des Europaparlaments steht aber noch aus. (Florian Niederndorfer, Fabian Sommavilla, 30.6.2022)