Eine Auseinandersetzung mit Antisemitismus ist wichtig, sagt Romina Wiegemann vom Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment in Berlin im Gastkommentar, es brauche dafür aber gerade bei Erwachsenen die richtige Perspektive.

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Die Auseinandersetzung mit aktuellem Antisemitismus muss sich an grundsätzlichen Fragen orientieren.
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In ihrem Blog versorgt Barbara Buchegger Eltern mit Ratschlägen, zuletzt zum Umgang mit "Nazi-Stickern" im Klassen-Whatsapp-Chat (siehe "Nazi-Sticker in Whatsapp: Macht sich mein Kind strafbar?"). Als positiv daran ist zu bewerten, dass die weitgehende Normalisierung nationalsozialistischer, die Shoah relativierender oder verherrlichender Inhalte als Herausforderung in der Schule zumindest thematisiert wird. Allerdings ist im Hinblick auf die – auch von Frau Buchegger zugebilligte – Ernsthaftigkeit der Angelegenheit fragwürdig, ob der Problemschwerpunkt im Blogbeitrag ausreichend erfasst wird und die Perspektive, die für die Beratung gewählt wurde, die geeignete ist.

Es ist nachvollziehbar, dass die Konfrontation mit Nazi-Stickern bei Eltern eine Bandbreite von unbehaglichen Emotionen auslöst. Das unbearbeitete historische Erbe führt nur allzu häufig zu dem Reflex, sich auf größtmögliche Distanz zu entsprechenden aktuellen Artikulationen bringen zu wollen.

Was zu kurz kommt

Die sich durch den Beitrag ziehende Angst vor Bestrafung ist nicht nur aus psychoanalytischer Perspektive bemerkenswert. Vor allem wird aber suggeriert, worum es Eltern bei der Konfrontation mit den Themen gehen muss: Wie kommen mein Kind und wir als Familie aus der Nummer möglichst unbeschadet raus?

Was bei den Verweisen auf das Verbotsgesetz und polizeilichen Praktiken im Umgang mit Beweismitteln (Handy-Beschlagnahmung!) zu kurz kommt, ist die Herstellung einer Beziehung zum tatsächlichen Problem. Warum werden nationalsozialistische und antisemitische Inhalte so häufig "geteilt"? Wie wird mit Manifestationen von aktuellem Antisemitismus in der Schule umgegangen? Gibt es ein ausreichendes Bewusstsein für die Problematik? Wird normalisierter Antisemitismus als das, was er ist, auch von Eltern erkannt? Wird er ernst genommen und nicht als "jugendtypisches, provokatives" Verhalten bagatellisiert, sondern als gesamtgesellschaftliche Herausforderung verstanden, die auch alle am System Schule Beteiligten miteinschließt? Und gibt es eine Sensibilität dafür, wie geschichtsrevisionistische oder -verherrlichende "Nazi-Sticker" auf Schülerinnen und Schüler (ihre Familien oder auch Lehrerinnen und Lehrer) wirken, die Nachkommen von Opfergruppen oder nach wie vor von Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung betroffen sind?

"Antisemitismus, sei er bewusst oder unbewusst, resultiert selten aus mangelndem Wissen über die Geschichte."

Aus pädagogischer Perspektive fragwürdig sind auch die Thesen, die in Bezug auf das Wissen beziehungsweise Nichtwissen über die nationalsozialistische Vergangenheit und die Shoah unter Schülerinnen und Schülern vertreten werden. Spätestens seit der verstärkten Medialisierung der Erinnerung in den frühen 1990er-Jahren ist bekannt, dass viele Volksschülerinnen und Volksschüler bereits über gewisse Vorstellungen über die nationalsozialistische Vergangenheit verfügen. Diese sind nicht selten von den typisch problematischen Geschichtskonfigurationen beeinflusst, die in Familien von Generation zu Generation weitergegeben werden. Daher irritiert auch der Appell, mit den Kindern über das zu sprechen, was "in den Familien selbst erlitten wurde", als wäre man sich selbst nicht ganz sicher, welche Rolle die österreichische Mehrheitsgesellschaft im Nationalsozialismus überwiegend eingenommen hat.

Darüber hinaus ist das Verordnen der schulischen Thematisierung von Nationalsozialismus und Shoah als Reaktion auf Vorfälle von geringem pädagogischem Wert. So wichtig eine altersangemessene, methodisch und didaktisch gut aufbereitete Auseinandersetzung ist, so sinnentleert wird sie, wenn sie für den Versuch, eine Immunisierung gegen Antisemitismus hervorzurufen, instrumentalisiert wird. Antisemitismus, sei er bewusst oder unbewusst, resultiert selten aus mangelndem Wissen über die Geschichte, sondern primär aus den Funktionen, die er in einer Gesellschaft übernimmt.

Grundsätzliche Fragen

Der Appell, die Kinder zu Zivilcourage zu animieren, erscheint angesichts der vorangegangenen Ausführungen, die dem Postulat "Löschen!" und der Vermittlung geeigneter technischer Kniffe untergeordnet waren, eher an den Haaren herbeigezogen.

Die Auseinandersetzung mit aktuellem Antisemitismus muss sich an grundsätzlichen Fragen orientieren. In welcher Beziehung stehen Eltern oder pädagogische Verantwortliche eigentlich zu der "Thematik"? Wie gelangen wir zu einem entkrampften, offenen und problemfokussierten Umgang mit den Herausforderungen, die sich in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft immer wieder stellen? Und wie bearbeiten wir den Umstand, dass diverse Formen der Abwehr, Tabuisierung und Distanzierung – gerade bei Erwachsenen – immer noch häufiger anzutreffen sind als eine ehrliche Auseinandersetzung? (Romina Wiegemann, 19.7.2022)