Wer bin ich? Warum schreibe ich? Leïla Slimani.

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Er blüht nur nachts, und nur nachts verströmt er seinen betörenden Duft, dieser Strauch, der für Leïla Slimani, deren Vorname ebenfalls Nacht bedeutet, Symbol ihrer marokkanischen Heimat ist, "der verlorene, versunkene Duft des Landes meiner Kindheit", von Dichtern und allen Liebenden besungen.

Während wir gespannt auf die Übersetzung von Leïla Slimanis gerade erschienenem zweiten Band ihrer Familiensaga Das Land der anderen warten, gewährt uns die Autorin in dem dazwischen veröffentlichten Essayband Der Duft der Blumen bei Nacht einen sehr persönlichen Blick in ihre Kindheit und Jugend in Rabat, ihr Leben in Paris und ihre Schreibwerkstatt.

Wir erfahren viel über die Einsamkeit des Schriftstellers, seinen Rückzug von der Welt, der aber ein intensiveres Wahrnehmen erlaube. "Oberste Regel, wenn man einen Roman schreiben möchte, ist, Nein zu sagen." Statt mit Bekannten, Freunden und Partygästen umgibt sie sich mit berühmten Leidensgenossen, von Virginia Woolf über Camus bis zu Tolstoi, den sie mit der herrlichen Anekdote über seine Schaffenskrise während der Arbeit an Anna Karenina zitiert.

Als ihn sein Verleger, besorgt über das ausbleibende Manuskript, aufsucht und nach dem Gang der Arbeit fragt, für die er schon beträchtlichen Vorschuss gezahlt hat, antwortet Tolstoi der Legende zufolge: "Anna Karenina ist gegangen. Ich warte, dass sie zurückkommt." Virginia Woolf hingegen spielt die eingebildete Kranke, wie sie in ihrem Tagebuch schreibt, und "alle lassen mich in Frieden".

Drinnen und draußen

Gerade Frauen leben in einem besonderen Spannungsfeld zwischen drinnen und draußen, drinnen wird ihnen das eigene Zimmer verwehrt, draußen die Weite des Blicks. "Die Frauenfrage ist eine Frage des Raums." Beim Wiederlesen der Tagebücher Virginia Woolfs entdeckt Leïla Slimani, dass die Autorin an eine Fortsetzung von Ein Zimmer für sich allein gedacht hatte. "Der provisorische Titel lautete: The Open Door, die offene Tür."

Zu den vielfältigen Reflexionen über ihre Kindheit und Jugend sowie ihre Rolle als Schriftstellerin gelangt Leïla Slimani, als sie sich eher halbherzig auf ein Projekt ihrer Lektorin einlässt, das vorsieht, eine Nacht eingeschlossen in einem Museum zu verbringen, in ihrem Fall wird das die Punta della Dogana in Venedig sein, die sie zu einer Nacht der Erinnerungen und Bekenntnisse bringen wird: wer sie ist, woher sie kommt und warum sie schreibt.

Venedig, immerhin, ist für sie die Stadt zwischen Orient und Okzident und übt daher auch auf sie eine große Faszination aus, auch wenn ihr die Venezianer vorkommen wie "Ureinwohner in einem Reservat, die letzten Zeugen einer Welt, die dabei ist, unterzugehen".

Ein schwieriger Ort

Ein Museum an sich ist aber für Leïla Slimani ein schwieriger Ort, im Rabat der 90er-Jahre gab es für sie zwar unendlich viele Bücher und amerikanische Filme, aber weder Museen noch Theater. Als sie mit 25 Jahren zum ersten Mal die Uffizien besucht, macht sie vor jedem Bild ein "andächtiges Gesicht, artig wie bei der Erstkommunion".

"Zu sehen erfordert eine beträchtliche kulturelle Anstrengung – nur weil ein Gebäude vor uns steht, sehen wir es noch lange nicht", das gilt ebenso für Werke der bildenden Kunst. Noch nach vielen Jahren in Paris bleibt für sie das Museum "ein Ort westlicher Kultur, ein elitärer Raum, dessen Codes ich noch immer nicht erfasst habe". Was ihr hier hilft, sich an längst Vergessenes zu erinnern, ist einzig und allein der Duft des Winterjasmins, der sich wie in ihrer Heimat in dieser Museumsnacht entfaltet.

Aber es sind auch ausgesprochen schmerzliche Erinnerungen, die erwachen, zum Beispiel die an die öffentliche Diffamierung ihres Vaters, der 2003 nach jahrelangem Gerichtsverfahren inhaftiert worden war. Als ehemaliger Direktor einer Bank war er in einen der größten Politik- und Finanzskandale hineingezogen worden, die Marokko je gesehen hat.

Schweigen in Worte fassen

Leïla Slimani, "Der Duft der Blumen
bei Nacht". Aus dem Französischen von Amelie Thoma. 20,60 Euro / 158 Seiten. Luchterhand, München 2022
Cover: Luchterhand

Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis wurde er krank und starb kurz darauf. "Jahre später wurde er von allen Vorwürfen freigesprochen." Leïla Slimani beschreibt nun nicht diesen Weg ihres Vaters in die Hölle, sondern sie beginnt zu schreiben, um der Amnesie zu trotzen und gegen die Ungerechtigkeit anzukämpfen, "das Schweigen in Worte zu fassen".

Vom Vater, der ihr eigentlich nie wirklich vertraut war, übernimmt sie den Gedanken vom inneren Leben, von etwas, das standgehalten hatte. Sie selbst wird dieses innere Leben "von da an ganz und gar aus Literatur speisen", sie wird zur Anwältin ihrer Figuren werden, wird versuchen, das selbst erlittene Unrecht im Schreiben wieder gutzumachen.

Über vieles hat sie nachgedacht in diesem Zwischenreich der Museumsnacht, über verletzte Identität, das Leben in und mit zwei Kulturen oder zwischen zwei Stühlen, über Rückzug und Einsamkeit, über Schreiben "als Spiel mit dem Schweigen", und nun wird sie in ihre Schreibhöhle zurückkehren und in ihre Romane eintreten wie in eine Kathedrale ... (Barbara Machui, 3.7.2022)