Abbas Khider floh mit 19 aus dem Irak und lebt seit 2000 in Deutschland.

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Migrationsgeschichten sind immer Reisegeschichten, egal in welche Richtung es geht. Said Al-Wahid hat sich in Deutschland ein neues Leben aufgebaut, in Berlin eine Familie gegründet, die schlimmsten Erfahrungen liegen hinter ihm. Aber als ihn ein Anruf seines Bruders aus Bagdad erreicht, die Mutter liege im Sterben, muss er sich so intensiv wie noch nie mit der Geschichte seiner Migration auseinandersetzen.

Da sitzt er gerade in einem ICE zwischen Mainz und Berlin, unverzüglich macht er sich auf den Weg – es folgt die Reise zurück in das Land seiner Herkunft. In der Erinnerung aber läuft noch einmal die andere Reise ab, als er vor Jahren den Irak gleichsam über Nacht verließ. Jordanien, Ägypten, Libyen, die Stationen seiner jahrelangen Flucht, ehe er in Deutschland ankam.

Zweifellos ist Said ein Alter Ego des Autors, der mit 19 aus dem Irak floh und seit 2000 in Deutschland lebt, mittlerweile als erfolgreicher deutscher Schriftsteller. Das neue Buch ist eine vergleichsweise dünne Geschichte, etwas mehr als 120 Seiten, und dennoch eine dichte, bewegende Prosa, die nicht auf vordergründige Weise die Frage der Identität abhandelt, sondern vielmehr Migration als ein Zuhause in nicht nur einer Kultur festschreiben möchte. Aber natürlich, bis man einmal in diesem Zuhause angekommen ist, ist es eine Geschichte der Irritationen, die die Zugehörigkeiten immer wieder infrage stellt.

All das lebt im Rückblick wieder auf, als Said die Stimme seines Bruders hört: "Komm so schnell wie möglich her." Damals, als er aus Bagdad fortging, hatte ihm die Mutter ins Ohr geflüstert: "Komm nie wieder zurück!" In seiner Erinnerung sieht er sie vor der Haustür stehen. "Bleiches Gesicht. Keine Tränen. Wie ein Geist blickte sie ihn an."

Weinen in Bagdad

Jahre später ist Said deutscher Staatsbürger, er hat eine Deutsche geheiratet und schreibt Bücher auf Deutsch. Vielleicht lässt sich so, mit Literatur, das Schmerzhafte der Erinnerung beherrschen, und wir erleben Khiders Protagonisten trotz aller Selbstzweifel als souveräne Figur in einem souveränen Roman.

Man könnte auf den ersten Blick sogar von Assimilierung sprechen, auch wenn es immer eine "Welt zwischen zwei Kulturen" bleiben wird. Und es kann auch nicht über die schlimme Anfangszeit hinwegtäuschen, wo junge Männer wie Said schnell im Visier des Verfassungsschutzes stehen, als Terroristen verhaftet werden oder sich davor fürchten, man könnte sie in der Öffentlichkeit als Araber erkennen.

Vor allem ist es ein Spießrutenlauf durch die deutsche Bürokratie, und als nach sechs Jahren die Abschiebung droht und alle Ersparnisse für juristische Hilfe aufgebraucht sind, scheint auch alle Zuversicht verloren: "Es war ein wertloses Leben, ein Furz am Rande aller Welten." Doch Said gibt nicht auf, nach zehn Jahren wird er eingebürgert. Mit seiner Heimat ist er via Skype verbunden, die Mutter ganz fern: "Sie weinte in Bagdad, er schaute starr geradeaus in München."

Da quälen ihn längst auch Erinnerungslücken – das sei eine Folge der Traumatisierung, erklärt ihm ein Arzt. "Typisch", denkt Said. "Wenn ein Migrant mit etwas kommt, das man in Deutschland nicht begreift, nennt man es ‚Trauma‘. Was soll man tun, wenn das ganze Leben ein einziges Trauma ist? Soll man das Leben in ein ‚Behandlungszentrum für Folteropfer‘ schicken?"

Sohn eines Verräters

Die Traumatisierung ist das Schicksal des Migranten. Said erinnert sich etwa an den "Bruder Heimat", einen brutalen Soldaten in der Nachbarschaft, der wie ein Sittenwächter die Familie kontrolliert und bedroht hat, oder daran, wie der Vater mit Tränen in den Augen seine Bücher verbrannte.

Abbas Khider,
"Der Erinnerungsfälscher". 19,60 Euro / 126 Seiten. Carl-Hanser-Verlag, München 2022
Cover: Hanser Verlag

Das reicht tief in die Geschichte der Familie: Said ist acht, als sein Vater hingerichtet wird. Nicht nur, dass das Regime der Familie verboten hatte zu trauern, sie wurde fortan im ganzen Viertel gemieden, Said in der Schule als "Sohn eines Verräters" beschimpft. Jahre später, als die Islamisten, "diese Jungs des Paradieses", das Land terrorisieren, wird Saids Schwester Nabila bei einem Bombenangriff zerfetzt.

Bagdad ist nichts für Romantiker, gibt der Bruder Said zu verstehen, und dessen Erinnerungen erscheinen keineswegs in einem verklärten Licht, auch er ist sich bewusst, dass der Tod in Bagdad alltäglich ist: Hier werden "Leichen in Massen hergestellt, wie Fladen in einer Bäckerei", und man trifft sich auf dem Friedhof, so wie man in Berlin am Samstag auf eine Party geht.

Dennoch ist Said naiv genug, wenn es um Gefühle, um "die schönste Erinnerung" geht: Wie in seiner Kindheit möchte er im Freien schlafen, auf dem Dach, in den Sternenhimmel blicken und am Morgen den Sonnenaufgang erleben. Der Bruder sieht ihn entgeistert an: Ob aus ihm ein "europäischer Orientalist" geworden sei? Nachts werde das Haus doch schon lange abgeschlossen, wegen der Banditen, wegen der Milizen … "Ach, mein Lieber, du ahnst nicht, was wir hier im Namen Gottes, im Namen von US-Demokratie alles erlebt oder gesehen haben!" (Gerhard Zeilinger, ALBUM, 2.7.2022)