Olaf Bernau im "Office du Niger", einem der größten Bewässerungsprojekte im westlichen Sahel in Mali.

Foto: David Brown

Kolonialismus und Sklaverei schufen Strukturen, die bis heute eine eigenständige Entwicklung Afrikas hemmen. Der Soziologe Olaf Bernau arbeitet im Rahmen eines transnationalen Netzwerks mit bäuerlichen Gemeinschaften und Menschenrechtsgruppen in Westafrika zusammen. In seinem Buch Brennpunkt Westafrika. Die Fluchtursachen und was Europa tun sollte fordert er Europa auf, sich seiner historischen Verantwortung für die Probleme der afrikanischen Länder zu stellen.

STANDARD: In Ihrem Buch Brennpunkt Westafrika breiten Sie ein komplexes Geflecht an Problemen aus, das Afrika belastet. Ist der europäische Blick auf den Kontinent zu oberflächlich?

Olaf Bernau: Die Frage ist eher, ob in Europa nicht bewusst Interessengegensätze ausgeblendet werden. Man möchte nicht zur Kenntnis nehmen, dass die beiden Kontinente eine lange Gewaltgeschichte verbindet. Viele Probleme, auch die politischen, mit denen afrikanische Länder heute kämpfen, sind deren Ergebnis.

STANDARD: Eine "bis heute klaffende Wunde" nennen Sie es. Wie kann eine solche Wunde heilen?

Bernau: Eine Heilung setzt die Anerkennung der Wunde voraus. Afrika bestand in vorkolonialer Zeit nicht nur aus zusammenhanglosen Dörfern. Gerade Westafrika wies ein Kaleidoskop unterschiedlicher politischer Systeme auf. In Nigeria etwa gab es von autonomen Dorfrepubliken über Fürstentümer bis zum Königreich Benin viele Formen der Staatlichkeit. Auf dem Territorium der heutigen Sahelländer erstreckten sich am Vorabend der Kolonisierung mehrere große Reiche, darunter das Tukulörreich und die fünf Königreiche der Mossi.
Die Kolonisatoren zerschlugen diese Reiche und zerstörten damit das Zusammenspiel zentraler und dezentraler Regierungsprinzipien, das diese Reiche auszeichnete. Stattdessen etablierten sie das Prinzip zentraler Hauptstädte, das auch nach dem Kolonialismus bestehen blieb. Die aktuelle Krise im Sahel mit den Gewalteskalationen jihadistischer Gruppierungen ist nicht zuletzt eine Folge dieses Konflikts zwischen einem Zentrum, das alle Ressourcen für sich in Anspruch nimmt, und vernachlässigten, abgehängten Randregionen. Vor Ort gilt dies als unstrittig, aber der Westen sah den Konflikt sofort als Ausdruck des internationalen Terrorismus an.

STANDARD: Verweigert sich Europa der Anerkennung seiner Schuld aus Angst vor Geldforderungen?

Bernau: Von seiner Verantwortung für die große ökonomische Kluft zwischen den europäischen und den afrikanischen Ländern will Europa nach wie vor nichts wissen. Diese Kluft hat auch mit schlechter Regierungsführung im zeitgenössischen Afrika zu tun, doch ihr eigentlicher Ursprung liegt im 17. Jahrhundert. Damals traten die Entwicklungspfade auseinander, und dieser Prozess hat sich durch Sklaverei und Kolonialismus immer weiter zugespitzt. Das grundlegende Muster lautet, dass afrikanische Länder primär Rohstoffe exportieren und verarbeitete Produkte importieren. Im Zuge der Verschuldungspolitik der 1980er- und 1990er-Jahre wurde es einmal mehr zementiert. Nähme Europa seine Verantwortung wahr, müsste es etwas von dem verbrecherisch zusammengeraubten Reichtum zurückgeben. Es würde mehr für die Rohstoffe zahlen, aufhören, die afrikanischen Märkte zu überschwemmen, und die afrikanischen Länder dabei unterstützen, eine eigene Industrie aufzubauen und sich zu innerafrikanischen ökonomischen Räumen zu vernetzen.

STANDARD: Inwieweit ist der afrikanischen Bevölkerung bewusst, dass ihre Probleme mit dem Kolonialismus und der Sklaverei zusammenhängen?

Bernau: Es gibt ein antikoloniales Alltagsbewusstsein. Die Menschen wissen, dass etwas grundlegend schiefläuft. Seit den 2000er-Jahren ist auch eine größere Entschiedenheit junger Menschen zu beobachten, die globalen Ungleichheiten nicht mehr einfach hinzunehmen. Da kommt ins Spiel, dass die asiatischen Länder zu einem Gegengewicht Europas und des Westens geworden sind. Obwohl auch China Interessenpolitik betreibt, aus Afrika Rohstoffe importiert und seine Waren auf dem afrikanischen Markt absetzt, geht es doch anders vor. Es ermöglicht Infrastrukturprojekte in einem Ausmaß, wie Europa dies nie zuwege gebracht hat. Entsprechend begrüßten bei einer Umfrage in 18 afrikanischen Ländern 62 Prozent der Befragten den Einfluss Chinas in Afrika. China verspricht, die Weltordnung, die auch nach der Unabhängigkeit aufrechterhalten wurde, endlich zu überwinden.

STANDARD: Je nach Perspektive als Gefahr oder als Hoffnung war immer wieder von einem Aufstand der afrikanischen Jugend gegen Europa die Rede. Sehen Sie ein solches Potenzial?

Bernau: Es zeigen sich mehrere Formen des Aufstands, aber nicht alle sind zukunftsweisend. Der Jihadismus etwa ist eine destruktive Form, die die Gesellschaften in eine Abwärtsspirale treibt. Vor allem in den ehemals von Frankreich kolonisierten Ländern hat sich eine scharfe antifranzösische Haltung aufgebaut. Ursache sind die ökonomischen Nachteile, die unter anderem die schon im Kolonialismus geschaffene Währung des CFA-Franc mit sich bringt, indem sie den Aufbau einer wettbewerbsfähigen Industrie erheblich behindert. Leider geht diese Kritik mit massiven Verschwörungstheorien einher, die den Westen in einer Weise dämonisieren, dass die Probleme in den Ländern selbst Gefahr laufen, überdeckt zu werden.

STANDARD: Erkennen die europäischen Länder nicht, was sie auslösen?

Bernau: Nein, das kann man am Beispiel Malis sehen. Da die aus einem Putsch hervorgegangene Übergangsregierung Wahlen erst später abhalten will, übt der Westen massiven Druck aus. Er bedenkt nicht, dass schnelle Wahlen nur dazu führen, die alten Eliten wieder in Amt und Würden zu bringen, weil nur sie über die nötigen Ressourcen für einen Wahlkampf verfügen. Dagegen ist es für die Menschen wichtig, erst einmal die Sicherheitskrise zu lösen, um dann mit neuen politischen Formationen die Basis für einen Neuanfang zu legen. Der westliche Druck bestärkte die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas, scharfe Sanktionen gegen Mali zu verhängen. Doch diese treffen die breite Bevölkerung und zeigen katastrophale Auswirkungen, nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch. So begünstigen sie eine Parteinahme zugunsten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Russland wird als das Land gesehen, das dem Westen die Stirn bietet und die westliche Vormachtstellung infrage stellt.

STANDARD: Sie zitieren zahlreiche afrikanische Schriftsteller und Intellektuelle. Welche Rolle spielen sie in den afrikanischen Ländern?

Olaf Bernau, "Brennpunkt Westafrika. Die Fluchtursachen und was Europa tun sollte". 18,50 Euro / 317 Seiten. C. H. Beck, München 2022
Cover: C.H. Beck

Bernau: Im Vergleich zu früher haben sie sehr an Bedeutung gewonnen. Das hängt auch mit dem Internet zusammen. Denn die Menschen, die nicht lesen können, erhalten nun die Möglichkeit, sich Ausschnitte aus historischen Reden anzuhören. So kehrt das Wissen zurück, dass sie eigene berühmte Unabhängigkeitskämpfer wie Kwame Nkrumah in Ghana oder Modibo Keïta in Mali hatten. Diese ersten Präsidenten wurden in Militärputschen gestürzt. Aber ihre Gedanken werden wieder lebendig und diffundieren in die Breite. Gleiches gilt auch für zahlreiche Schriftsteller.

STANDARD: Felwine Sarr ruft in seinem Buch Afrotopia den Kontinent auf, sich auf seinen verschütteten geistigen Reichtum zu besinnen. Ist das realistisch oder, wie der Buchtitel suggeriert, eine Utopie?

Bernau: Felwine Sarr wird vorgeworfen, dass dieser geistige Reichtum romantisierter Kitsch sei, den es in dieser Form nie gegeben habe. Afrotopia aber ist ein Essay, der normative Leitgedanken an die Hand gibt, um sich darüber zu verständigen, wie man aus der aktuellen Vielfachkrise unter Rückgriff auf das, was schon da war, einen Weg hinausfindet. Sarr erinnert daran, dass in den vorkolonialen Gesellschaften Fürsten und Könige auch abgewählt wurden, wenn sie nicht mehr die Interessen der Gemeinschaft vertraten, dass die Wohlhabenden eine gewisse Verantwortung für die Armen übernahmen und es eine alltägliche Moral des Teilens gab. Er fordert dazu auf, sich dieser in der Geschichte abgelagerten Erfahrungen bewusst zu werden, um gemeinsame Zukunftsmetaphern zu entwickeln und daraus einen politischen Prozess zu entwickeln, was mehr als bloße Utopie ist. (Ruth Renée Reif, ALBUM, 2.7.2022)