In den Höhlen von Sterkfontein in Südafrika wurden vier Schädel von Australopithecinen entdeckt. Sie dürften wesentlich länger in den Sedimenten verborgen gewesen sein als gedacht.
Foto: Jason Heaton, Ronald Clarke, Ditsong Museum of Natural History

Eine Million Jahre sind etwa in der Saurierforschung oder gar in der Erdgeschichte nur ein Wimpernschlag. Bei der Evolution des Menschen sieht das ganz anders aus: Eine Million Jahre älter oder jünger machen einen gewaltigen Unterschied und können bedeuten, dass eine Menschenart eine Region gleichzeitig mit einer anderen bewohnte – oder dass dies nicht der Fall war und sich womöglich eine Art aus der anderen heraus entwickelte.

Daher sorgt eine neue Studie, die im Fachjournal "PNAS" veröffentlicht wurde, für einigen Wirbel: Die Ergebnisse zeigen, dass einige südafrikanische Urmenschenfunde rund eine Million Jahre älter sein könnten als bisher angenommen. Darauf weist eine Datierungsmethode hin, die Strahlung aus dem Weltraum nutzt, um zu bestimmen, wann ein Objekt zuletzt dem Sonnenlicht ausgesetzt war.

Mehrere Menschenspezies

Der Ort des Geschehens sind die Höhlen von Sterkfontein, die sich unweit der Städte Johannesburg und Pretoria in Südafrika befinden. Die Gegend gilt als "Wiege der Menschheit": Auf einer Fläche, die kleiner ist als die der Stadt Wien, wurde beinahe ein Drittel aller bisher bekannten frühmenschlichen Funde zutage gefördert.

Vertreten war nicht nur die Gattung Homo, die etwa 2,5 Millionen Jahre alt ist und zu der der moderne Mensch – Homo sapiens – gehört. Eine robust gebaute und Schimpansen verhältnismäßig ähnliche Gattung, Paranthropus, wurde hier erstmals entdeckt und könnte gleichzeitig mit Homo gelebt haben. Schließlich gibt es hier auch Funde von Australopithecus, einer Gattung, die ungefähr vor zwei bis vier Millionen Jahren lebte und aus der sich auch unser Familienzweig herausentwickelt haben dürfte.

Eine von ihnen wird "Mrs. Ples" genannt – ein Schädelknochen, der im Gegensatz zu anderen Funden fast vollständig erhalten ist und daher eine wichtige Grundlage dafür liefert, wie die damaligen Frühmenschen aussahen und wie groß ihr Gehirn war. Die Australopithecinen dürften sich schon auf zwei Beinen fortbewegt haben, wie der Skelettbau vermuten lässt. In der Entwicklung waren sie jedoch nach aktuellem Fund- und Wissensstand nicht so weit wie spätere Vertreter der Menschengruppe: Es gibt keine Steinwerkzeuge, die so alt sind wie die ältesten Australopithecus-Knochen.

Angepasstes Alter

Das Datieren von versteinerten Knochen, wie sie auch in Sterkfontein auftreten, ist meist schwierig – generell werden Jahresangaben im Laufe der Zeit und der sich weiterentwickelnden Analysemöglichkeiten immer wieder korrigiert und treiben die wissenschaftliche Diskussion zur Entwicklung des Menschen an. Jene Fundschicht, aus der wichtige Knochenfragmente von Australopithecinen stammen, wurde von einigen Forschungsgruppen in einer Zeit vor zwei bis 2,6 Millionen Jahre verortet, also unter den jüngeren Exemplaren der Gattung.

Das Team um Kathleen Kuman von der Universität Witwatersrand in Johannesburg veröffentlichte in seiner aktuellen Untersuchung allerdings Hinweise darauf, dass die Schicht – sowie die enthaltenen Funde – eher ein Alter von 3,3 bis 3,7 Millionen Jahren haben. Damit wären sie also etwa eine Million Jahre älter als die frühere Schätzung.

Kosmische Strahlung

Zu diesem Ergebnis kam die Gruppe durch ein Verfahren, das kosmische Strahlung berücksichtigt. Sie lässt auf der Erde radioaktive Isotope entstehen, von denen sich besonders viele an Objekten an der Erdoberfläche bilden. Liegt ein Stein oder ein Knochen hingegen unter der Erde, beispielsweise in einer Höhle, sammeln sich weniger radioaktive Isotope, die durch die Strahlung aus dem All entstehen.

Diese Methode wandten die Forschenden für das Steinmaterial an, das sich direkt an den versteinerten Knochen befand. Die Menge der bereits zerfallenen radioaktiven Elemente verrät bei diesem Verfahren das mögliche Alter eines Objekts. Oder zumindest, seit wann es sich nicht mehr an der Erdoberfläche befindet. Gerade im Bereich von Karsthöhlen kann es aber schwierig sein, Funde und ihr Alter richtig einzuschätzen, weil Teile der Höhle zusammenbrechen. Dadurch vermischt sich womöglich Material, das ursprünglich nicht zur gleichen Zeit an der Oberfläche war.

Gemeinsame Evolution von Lucy und Mrs. Ples

Aber was bedeutet es, wenn die Australopithecus-Funde eine Million Jahre älter sind? Die neue Datierung könnte den Blick auf den zeitlichen Verlauf ändern: Demnach waren die südafrikanischen Australopithecinen vielleicht gleichzeitig mit jenen auf der Welt, die in Ostafrika lebten. Dort, in Äthiopien, wurde die berühmte Lucy entdeckt – und die sähe im Vergleich mit Mrs. Ples und den anderen Funden aus Sterkfontein eher jung aus, kommt sie doch nur auf geschätzte 3,2 Millionen Jahre.

Womöglich handelte es sich sogar um Spezies, die enger miteinander verwandt sind als bisher angenommen – immerhin wird unter den Arten "afarensis" und "africanus" unterschieden. Es könnte auch einen Austausch zwischen den Gruppen gegeben haben, ähnlich wie später zwischen Homo sapiens, Neandertalern und Denisova-Menschen.

"Über einen Zeitraum von Millionen von Jahren hatten diese Arten bei einer Entfernung von nur 4.000 Kilometern reichlich Zeit, sich fortzubewegen und sich miteinander fortzupflanzen", sagt Laurent Bruxelles, einer der beteiligten Forscher von der Universität Witwatersrand. "Wir können uns also eine gemeinsame Evolution über Afrika hinweg vorstellen." (Julia Sica, 3.7.2022)