Höchstens zu Silvester wird dem fernen Europa die Existenz des zentralpazifischen Inselstaats Kiribati in Erinnerung gerufen: Die 123.000 Menschen dort begrüßen traditionell als Erste weltweit das neue Jahr. Was die Klimakatastrophe betrifft, macht Kiribati auf traurige Art von sich reden: In 30 bis 40 Jahren, so schätzen Fachleute, könnte die poly- und mikronesische Inselwelt zwischen Australien und Hawaii wegen des steigenden Meeresspiegels versunken sein.

Riesige Fläche, wenig Land: Kiribati.
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Zu allem Überfluss sind die Inseln, die sich über eine Fläche von der Größe der EU erstrecken und deren Landmasse gerade einmal doppelt so groß wie Wien ist, nun in eine Verfassungskrise geschlittert, die sich bis zum Londoner "Guardian" durchgesprochen hat. Seit die Regierung am Donnerstag den einzig verbliebenen Höchstrichter William Hastings, einen gebürtigen Neuseeländer, suspendiert hat, steht Kiribati faktisch ohne Obersten Gerichtshof da.

"Ganz klare Zweifel"

Im Mai ging nämlich schon dessen Kollege David Lambourne, ein Australier, seines Amtes verlustig. Beiden Richtern wird "Fehlverhalten" vorgeworfen – ins Detail geht die Regierung in South Tarawa aber nicht. Sein Suspendierungsschreiben erhielt Hastings ausgerechnet während jener Sitzung des Gerichts, bei der er eine Beschwerde des zuvor geschassten Lambourne hätte verhandeln sollen. Nun sehen Fachleute den Rechtsstaat in Kiribati in Gefahr. "Der andauernde Streit zwischen Richtern und der Regierung lässt ganz klare Zweifel an der Unabhängigkeit der Justiz aufkommen", sagt etwa Anna Dziedzic von der Universität Melbourne.

Chinas Begehrlichkeiten im Südpazifik machen sich auch in Kiribati bemerkbar. Im Mai war die Hauptstadt South Tarawa die zweite Station einer Besuchstour von Außenminister Wang Yi (links).
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Dem Australier Lambourne, der bis zu seinem erzwungenen Exil zwanzig Jahre lang in Kiribati lebte und dort mit Oppositionsführerin Tessie Lambourne verheiratet ist, war im Februar 2020 während einer Dienstreise in die alte Heimat die Rückkehr nach Kiribati verwehrt worden. Beobachtern zufolge kam der kiribatischen Regierung das Virus zupass, um den unliebsamen Juristen auf Abstand zu halten: Der Inselstaat blieb lange von der Pandemie verschont, erst im Jänner 2022 wurden erste Fälle registriert.

Lambourne, der bis Ende 2020 in Australien blieb und dann nach Fidschi reiste, um von dort aus ein Flugzeug nach Kiribati zu besteigen, wurde von der Regierung vor die Wahl gestellt, entweder auf sein eigentlich auf Lebenszeit ausgelegtes Richtermandat zu verzichten und zurück nach South Tarawa zu kommen, oder aber ohne Gehalt und Einreisegenehmigung in Fidschi zu stranden.

Kritik aus London

Im November 2021 erklärte der verbliebene – und nun ebenfalls suspendierte – Richter Hastings das Vorgehen der Regierung gegenüber seinem Kollegen als verfassungswidrig. Die Regierung legte dagegen Berufung ein, ein Urteil des – wie in vielen Pazifikstaaten üblich – aus pensionierten neuseeländischen Richtern bestehenden Berufungsgerichts wird für Ende des Monats erwartet. Im Mai eskalierte die Regierung die Affäre Lambourne abermals und suspendierte diesen "wegen Beschwerden aus der Öffentlichkeit".

Nun hat sich auch der Commonwealth in die kiribatische Verfassungskrise eingeschaltet. Man beobachte die "undurchsichtigen" Vorgänge im Inselstaat mit "großer Sorge", ließ der Staatenbund der Regierung in South Tarawa ausrichten. Diese wies die Kritik zurück. (flon, 1.7.2022)