Volksschuldirektorin Saskia Hula wundert sich in ihrem Gastkommentar darüber, dass so viel Volksschulkinder bereits Nachhilfe bekommen – und fragt nach der Ursache. Lesen Sie dazu auch den Gastkommentar des IHS-Bildungsexperten Mario Steiner.

Geht es nur um die Noten? Was soll die Volksschule leisten, und was kann sie leisten? Und was gehört dringend geändert?
Foto: APA/Schlager

Warum bekommen so viele Volksschulkinder Nachhilfe? Wenn man das Warum als ein Wofür interpretiert, liegt die Antwort auf der Hand: Volksschulkinder bekommen Nachhilfe, damit sie – wenn auch mit Müh und Not – den Aufstieg in die nächste Schulstufe schaffen. Oder die Aufnahme in eine bestimmte AHS, die sich ihre Eltern wünschen. Oder überhaupt in eine AHS. Mehr ist nicht dahinter. Kein Volksschulkind bekommt Nachhilfe, damit es seinen Interessen besser nachgehen kann. Damit es seine Stärken ausbauen kann. Oder damit es nachher etwas besser kann. Die Note allein genügt völlig. Sie ist das erklärte Ziel.

Freude am Lernen

Und das ist auch kein Geheimnis. Es ist eher ungewöhnlich, wenn man das merkwürdig findet, weil doch in einem Bildungssystem das Lernen und die Freude daran im Vordergrund stehen könnten. Trotzdem bleiben natürlich einige Fragen offen. Zum Beispiel: Warum ist es für so viele Eltern ein so großes Anliegen, dass ihre Kinder in die AHS gehen und nicht in eine Mittelschule, egal ob neu, kooperativ oder was auch immer? Warum nehmen sie lieber in Kauf, dass sich ihr Kind jahrelang plagt (und Nachhilfe braucht), als fröhlich darauf zu vertrauen, dass das österreichische Schulsystem allen Kindern – unabhängig vom familiären und kulturellen Hintergrund, von der Sprache und von der Möglichkeit der Eltern, Nachhilfestunden zu bezahlen – einen qualitativ hochwertigen Unterricht und damit einen Weg in eine erfolgreiche Zukunft bietet?

Oder liegt es gar nicht am Schulsystem, sondern an den Kindern selbst? Bringen die Kinder von heute einfach nicht mehr die notwendigen Voraussetzungen mit? Sind es die sprachlichen Defizite der Kinder, die zu Hause eine andere Sprache sprechen? Ist es der zunehmende Medienkonsum der Smartphone-Generation? Sind es die fehlenden Erfahrungen? Die Aufmerksamkeitsdefizite? Die Konzentrationsschwächen? Der Bewegungsmangel?

"Warum fühlt sich eigentlich mittlerweile jede zweite Lehrerin überfordert? Warum wollen so viele junge, fertig ausgebildete Lehrkräfte entweder gar nicht mehr in diesem Beruf anfangen oder nur mit der Hälfte der Stunden, auf keinen Fall aber in der Klasse stehen."

Oder liegt es an den Eltern, die keine Zeit mehr für ihre Kinder haben und alles auf die Schule abwälzen? Die ihre Kinder überbehüten und ihnen nichts mehr zutrauen? Die ihnen keine Grenzen setzen oder zu enge? Die zu viel von ihnen erwarten? Oder zu wenig? Die sich einen akademischen Titel um jeden Preis in den Kopf setzen, statt sich mit einer Lehre zufriedenzugeben?

Und warum wird es eigentlich überhaupt immer komplizierter, Kindern das Rechnen, Schreiben und Lesen beizubringen? Warum braucht man dafür eine immer längere und immer akademischere Ausbildung, immer mehr Zeit, immer mehr digitale Endgeräte, immer mehr Nachhilfestunden und immer mehr Ferienhefte? Warum muss man dafür immer mehr Kompetenzprofile erstellen und Förderdokumentationen und die Kinder nach ihrem Sprachstand einteilen und schulpsychologische Gutachten heranziehen und Expertinnen und Experten an die Schule holen, die gute Ratschläge geben, die wiederum nur selten befolgt werden, weil sich entweder niemand zuständig oder jeder überfordert fühlt? Warum fühlt sich eigentlich mittlerweile jede zweite Lehrerin überfordert? Warum wollen so viele junge, fertig ausgebildete Lehrkräfte entweder gar nicht mehr in diesem Beruf anfangen oder nur mit der Hälfte der Stunden, auf keinen Fall aber in der Klasse stehen.

"Warum lernen die Kinder das, was sie brauchen, eigentlich nicht in den vielen Stunden, die sie in der Schule verbringen?"

Warum brauchen wir mittlerweile für das Erstellen der Zeugnisse fünfmal so lang wie früher, als wir sie noch mit der Hand geschrieben haben? Und warum lernen die Kinder das, was sie brauchen, eigentlich nicht in den vielen Stunden, die sie in der Schule verbringen? Wieso sollen ausgerechnet ein paar wenige zusätzliche Nachhilfestunden das leisten, was der gesamte Schulunterricht offensichtlich nicht leisten kann? Denn schließlich bemüht sich ein ganzes Team von Lehrern und Lehrerinnen um den Schulerfolg der Kinder. Klassenlehrerin. Teamlehrer. Stützlehrerin. Beratungslehrer. Sprachförderlehrerin. Muttersprachenlehrer. Wozu also bitte noch eine Nachhilfelehrerin, die nicht einmal in die fachlichen Überlegungen des Lehrkräfteteams eingebunden ist und manchmal nicht die geringste didaktische Ausbildung hat? Oder ist gerade das ihr Vorteil: dass sie vorurteilsfrei an die Sache herangeht? Mit einem klaren Ziel vor Augen?

Im Nachhilfemodus

Und wie erfolgreich ist eigentlich dieser ganze Nachhilfeunterricht? Das wäre doch der interessanteste Punkt. Denn möglicherweise können wir als Schule ja etwas daraus lernen. Vielleicht wäre es tatsächlich sinnvoller, Kinder nicht wie bisher fünf Stunden am Tag im Klassenverband und im 50-Minuten-Takt zu unterrichten wie vor 200 Jahren, sondern nur mehr eine einzige Stunde – dafür aber in kleinen Gruppen und mit klaren Zielen. Im Nachhilfemodus sozusagen. Der Lehrer als Lernbegleiter, als Coach, so ist das ja mittlerweile sowieso gedacht. Nur dass es halt nicht so einfach ist, 25 äußerst unterschiedliche Kinder gleichzeitig zu coachen.

Eine Stunde am Tag Unterricht. Den Rest der Zeit könnten die Kinder dann malen, tanzen, Theater spielen, Brücken bauen, Beete anlegen und all die Erfahrungen sammeln, die ihnen fehlen. Vielleicht wäre es ja tatsächlich endlich an der Zeit, unser Schulsystem von Grund auf neu zu denken und ihm nicht immer nur neue Hüte aufzusetzen? (Saskia Hula, 2.7.2022)