Im Gastkommentar fordert IHS-Bildungsexperte Mario Steiner einen massiven Ausbau des Unterstützungsangebots an Schulen. Lesen Sie dazu auch den Gastkommentar von Volksschuldirektorin Saskia Hula: "Baustelle Volksschule".

Altbekanntes Problem, in einer Studie der Uni Wien neu belegt: Das Bildungssystem schreibt soziale Ungleichheiten fort.
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Zwei Erkenntnisse der Bildungsforschung haben in letzter Zeit die Schuldiskussionen beflügelt: einmal die Tatsache, dass bereits 16 Prozent der Volksschülerinnen und Volksschüler Nachhilfe benötigen beziehungsweise kriegen, und zum anderen die Feststellung, dass Aufstiegsmöglichkeiten im Bildungssystem primär von sozial privilegierten Kindern genutzt werden. Beide Befunde verweisen auf ein Grundproblem im österreichischen Bildungssystem, dessen – auch im internationalen Vergleich – bemerkenswerte Dimension uns regelmäßig unter anderem durch die Pisa-Ergebnisse vor Augen geführt wird: die soziale Selektivität und Vererbung von Schulerfolg.

Das zeigt sich bereits in den Volksschulen, quasi der einzigen Gesamtschule, die es hierzulande gibt. Die Selektivität dort beginnt vor allem im urbanen Bereich schon an dem Punkt, welche Kinder welchen Standort besuchen. Die Konsequenz ist eine Häufung von mehr oder minder privilegierten Schülerinnen und Schülern an den jeweiligen Standorten.

Selektion und Ungleichheit

Ihren Höhepunkt erlangt die soziale Selektivität in Volksschulen bei den Abschlussnoten in der vierten Klasse, die die Weichen entscheidend für die weitere Bildungslaufbahn stellen. Das erzeugt Druck auf und Stress bei allen Beteiligten und bedingt den Einsatz von Ressourcen wie der Nachhilfe. Den Umstieg in die AHS schaffen dann privilegierte Schülerinnen und Schüler auch unabhängig vom Kompetenzniveau deutlich häufiger. Vergleichbare Mechanismen sind am Übergang von der unteren in die obere Sekundarstufe festzustellen, weshalb es ins Bild passt, dass privilegierte Schülerinnen und Schüler Aufstiegsmöglichkeiten eher nutzen.

"Es fehlt ein glaubhaftes Narrativ von Chancengleichheit und Gerechtigkeit."

Die Ursachen der sozialen Selektivität sind mannigfaltig und liegen auf verschiedenen Ebenen. Auf der sozialen Ebene ist ein Bestreben der Sicherung und Maximierung von individuellen Vorteilen ein entscheidender Faktor. Auf der strukturellen Ebene ist die im internationalen Vergleich beinahe beispiellos frühe Laufbahnentscheidung bei den bestenfalls Zehnjährigen ins Treffen zu führen. Auf gesellschaftlicher Ebene wieder fehlt nicht zuletzt aufgrund einer sich immer weiter öffnenden sozialen Schere ein glaubhaftes Narrativ von Chancengleichheit und Gerechtigkeit, was sich wiederum negativ auf die Erwartungen und die Motivation benachteiligter Jugendlicher auswirkt.

Das bildungspolitische Streben sollte – auch angesichts eines dritten Corona-beeinflussten Schuljahres ante portas – auf eine Steigerung der Resilienz und sozialen Nachhaltigkeit unseres Bildungssystems ausgerichtet sein.

Wechsel statt Mangel

Eine derartige Strategie beginnt bei einem massiven Ausbau des Unterstützungsangebots an Schulen. Der eklatante Mangel hier ist auch nicht erst seit gestern bekannt, und eine Betreuungsrelation von tausenden Schülerinnen und Schülern gegenüber einer schulpsychologischen Fachkraft ist ein plakatives Bild dafür. Die Bereiche des Mangels sind jedoch breiter und reichen von der Administration bis zur Schulsozialarbeit, wobei die Corona-Jahre hier nochmals als Brandbeschleuniger gewirkt haben. Ein Ausbau der Unterstützungsleistungen erlaubt es den Lehrkräften, sich wieder stärker darauf zu konzentrieren, worin ihre Kernkompetenz besteht: den Unterricht.

Eine soziale Nachhaltigkeitsstrategie setzt sich fort in einer chancengerechten Ressourcenverteilung innerhalb des Bildungssystems. Ansätze dazu gibt es, und das Bestreben sollte sein, über das Versuchsstadium hinauszukommen. Wenn Benachteiligung mit erhöhter Ressourcenzuteilung verbunden ist, ändern sich Anreizstrukturen, die Integration gewinnt, und die Segregation verliert an Attraktivität, womit sich die soziale Ungleichheitsschere schließt und die soziale Nachhaltigkeit an Boden gewinnt.

Digital Divide

Die notwendige Resilienzsteigerung erfordert erhöhte Anstrengungen im Bereich der Digitalisierung und des Empowerments. Die Digitalisierung darf sich nicht in Fragen der Hardware und der Entwicklung digitaler Materialien erschöpfen, sondern auf einer übergeordneten Ebene braucht es Antworten auf Fragen notwendiger digitaler Kompetenzen und ihrer didaktischen Vermittlung sowie verstärkter Aufmerksamkeit gegenüber der "Digital Divide", um an dieser Stelle nicht einem weiteren Treiber für soziale Ungleichheit die Schleusen zu öffnen. Das Empowerment schließlich beginnt bei einer Stärkung der Autonomie von Schulen und endet bei einer pädagogisch-didaktischen Strategie und Lehrplangestaltung, deren oberstes Ziel das selbstständige und kritische Denken (und nicht das sinnbefreite Auswendiglernen von Fakten) darstellt. (Mario Steiner, 3.7.2022)