PRO: Verteidigung mit Hirn

von Eric Frey

Eine Mehrheit der Österreicherinnen und Österreicher will ein Bundesheer, das sie vor äußeren Angriffen schützt. Eine noch viel größere Mehrheit will unbedingt an der Neutralität festhalten.

Diese beiden Wünsche passen nicht zusammen. Neutralität bietet keinen Schutz vor Aggressoren, das hat die Geschichte oft genug gezeigt. Dafür braucht es eine viel größere Verteidigungsbereitschaft wie in der Schweiz, die in Österreich nur von wenigen geteilt wird. Und selbst das Schweizer Modell bietet weniger Sicherheit als die Einbettung in ein breites Verteidigungsbündnis, das viel effizienter arbeiten kann als militärische Einzelgänger.

Die Folge ist, dass Österreich keine Sicherheitspolitik verfolgt, die diesen Namen verdient. Das kann sich das Land nur leisten, weil es von befreundeten Staaten umgeben ist, die wiederum fast alle Mitglieder der Nato sind. Österreich nascht an deren militärischen Investitionen mit und nimmt sich das Privileg heraus, Verteidigung "im Herzen" (Zitat Ministerin Klaudia Tanner) zu betreiben statt mit Geld und Hirn.

Ganz anders handeln Finnland und Schweden, die beide nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ihre Bündnisfreiheit aufgegeben haben und nun auf dem Weg in die Nato sind. Zurück bleiben unter den EU-Neutralen drei Inselstaaten und ein Land, das sich einbildet, eine Insel der Seligen zu sein.

Österreich muss daran nichts ändern, es steht kein Aggressor vor den Toren. Die Nato braucht uns nicht und ist zufrieden, solange Bundesheer und Regierung in der Praxis kooperieren. Aber es ist die Rolle eines peinlichen Sonderlings, in die sich das Land hineinmanövriert hat. An die Chancen einer "aktiven Neutralität" glaubt jenseits der Landesgrenzen niemand.

Nun gibt es auch in Österreich vereinzelte Stimmen, die die Neutralität als Schimäre sehen und sie überwinden möchten. Aber selbst sie schrecken vor einer Nato-Mitgliedschaft zurück. Stattdessen drängen sie darauf, Teil einer europäischen Verteidigung zu werden, ohne die bösen Amerikaner.

Das Problem daran: Die EU-Armee gibt es heute nicht und wird es nicht bald geben. Eine europäische Verteidigungssäule, darüber herrscht Konsens, kann nur innerhalb der Nato entstehen. Wenn Österreich mitreden will, dann muss es dem Bündnis beitreten – genauso wie Dänemark nun offiziell an der EU-Verteidigung teilnimmt. Das Land auf diesen Schritt vorzubereiten wäre die Aufgabe einer Regierung, die sich um Sicherheit kümmert und nicht nur um Umfragen. (Eric Frey, 2.7.2022)

KONTRA: Neutral, aber ehrlich

von Petra Stuiber

Wolfgang Schüssel hat es einmal versucht. Der Kanzler der ersten schwarz-blauen Regierung ventilierte eine neue Sicherheitsdoktrin – und mit ihr auch einen Nato-Beitritt. Er scheiterte, weil die Österreicherinnen und Österreicher an der Neutralität festhalten wollten. Das ist knapp 20 Jahre später immer noch so, unerschütterlich und unbeeindruckt von Bedrohungen wie dem Ukraine-Krieg.

Diese Liebe zur Neutralität ist bei der Generation 50 plus besonders groß. Aber auch jüngere Semester wollen sie laut jüngsten Umfragen klar mehrheitlich behalten. Ob das nun Folklore ist oder sogar so etwas wie Teil einer österreichischen Identität – darüber kann man streiten. Klar ist: Diese Stimmungslage der Bevölkerung muss die Regierung respektieren.

Was sie nicht muss und auch nicht soll: die österreichische Lebenslüge, die damit verbunden ist, weiter pflegen. Ein Beispiel: In einer Umfrage des Instituts für Demoskopie und Datenanalyse (IFDD) im Mai wünschte sich die Mehrheit der Befragten zwar einerseits, dass es in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine engere Abstimmung zwischen den EU-Staaten geben müsse. Andererseits wollten sich dieselben Befragten nicht an einem europäischen Verteidigungsbündnis beteiligen. Man hofft hierzulande aus Tradition, sich im Krisenfall klein machen und hinter anderen, größeren, wehrtechnisch gut gerüsteten Staaten verstecken zu können.

Es ist nicht die Zeit, darüber mit einem Augenzwinkern hinwegzusehen. Die Regierung muss die Bevölkerung beim Wort und die Neutralität endlich ernst nehmen. Denn auch diese Sicherheitsdoktrin hat nur Sinn, wenn man sie mit Leben erfüllt. Was können wir, was wollen wir in Zukunft leisten – ganz konkret, als neutraler Staat im europäischen Verband? Was müssen wir ausbauen, was können wir weglassen? Und wie gedenken wir der europäischen Beistandspflicht, zu der wir uns verpflichtet haben, im Ernstfall nachzukommen? Diese Fragen muss man präzise beantworten können, wenn man vorhat, ins Bundesheer zu investieren – ganz zu schweigen von der Frage, ob dies alles weiterhin mit Wehrpflicht und Milizheer zu leisten ist oder ob ein Berufsheer nicht doch besser wäre.

Gar nicht über die Neutralität diskutieren zu wollen, wie das Kanzler Karl Nehammer zu Beginn des Ukraine-Kriegs resolut verordnen wollte, ist der falsche Weg. Wir müssen reden. Ehrlich reden. Im Sinne einer Bevölkerung, die sich vor allem anderen wünscht, dass Österreich ein neutraler Staat bleibt. (Petra Stuiber, 2.7.2022)