In den 1970er-Jahren wurde in Wien für legalen Schwangerschaftsabbruch demonstriert. Dazu kam es in Europa nie.

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Unter liberal denkenden Menschen hat die Aufhebung von "Roe v. Wade" durch den U.S. Supreme Court Schrecken ausgelöst. Vor einer Woche hat eine Mehrheit von sechs konservativen gegen drei liberale Höchstrichter die Grundsatzentscheidung gekippt, die in den USA fast 50 Jahre lang Abtreibungen bis zum sechsten Schwangerschaftsmonat für legal erklärte. Seitdem fragen sich Frauen und feministisch denkende Personen weltweit, ob ein derartiger Rückschritt in ihrem Land ebenfalls möglich ist.

Auch in Österreich ist das ein Thema, seit 1975 von der damaligen SPÖ-Alleinregierung die Fristenlösung beschlossen wurde – nach fast hundertjährigem Kampf vor allem sozialdemokratischer und anderer linksstehender Frauen. Die Reform wurde gegen den dezidierten Willen von ÖVP, FPÖ und der zu dieser Zeit gesellschaftsbestimmenden katholischen Kirche durchgesetzt.

Phalanx der Ablehnung

Sie bildeten eine Phalanx der Ablehnung, so wie auch später noch bei vielen gesellschaftspolitischen Verbesserungen. Das war im Familienrecht so, bei der Entkriminalisierung der Homosexualität oder der Gleichstellung von LGBTQI – alles Rechte, die nun, nach dem Antiabtreibungsdammbruch, in den USA ebenfalls mit dem Risiko der Abschaffung behaftet sind.

In Europa sei eine solche Entwicklung unwahrscheinlich, denn die gesellschaftliche Atmosphäre hier sei liberaler, sagt Helmut Graupner, Wiener Anwalt und Aktivist für die Rechte von LGBTQI. Auf längere Sicht aber sei fast sicher davon auszugehen, dass die erkämpften Rechte wieder infrage gestellt werden. "Das ist keine Einbahnstraße, in der Geschichte gibt es nichts Endgültiges", sagt der Jurist, der bei den Höchstgerichten Entscheide zur Entkriminalisierung und Gleichstellung homosexueller Paare und transsexueller Menschen erwirkt hat.

Entrechtungsprozess

Was könnte einen solchen Entrechtungsprozess auslösen? Dass Parteien und Bewegungen mit frauen- und LGBTQI-feindlichen Slogans allein Zulauf bekommen, hält Graupner in den meisten europäischen Staaten für wenig realistisch. In der Bevölkerung sei derlei nicht mehrheitsfähig. Doch mittelfristig könnten, frei nach dem US-Modell Trump, populistische Gruppen Zulauf bekommen, die solche Inhalte mittransportieren, aber aus anderen Gründen gewählt werden.

Angesichts von Inflation, Energieknappheit und Wirtschaftseinbruch befürchtet das auch der Verfassungsrechtsexperte Bernd-Christian Funk. Das Rechtssystem in Europa und speziell auch jenes in Österreich sei aber weniger angreifbar als das in den USA, sagt er. Beim österreichischen Verfassungsgerichtshof habe das unter anderem mit Beständigkeit zu tun. "Die Richter sind nicht bereit, ihre eigene Judikatur über den Haufen zu werfen, wie das jetzt der Supreme Court tut."

DER STANDARD

Fakt sei aber auch, sagt Funk, dass die Frage der Abtreibung in Europa rechtlich weniger gut abgesichert ist als die Gleichstellung von LGBTQI. Letztere ist in der Europäischen Menschenrechtskonvention und der EU-Grundrechtecharta verankert, europäische Gerichte und österreichischer Verfassungsgerichtshof handeln nach diesen Vorgaben. Ein Verfassungsrecht auf Abtreibung hingegen gibt es in der gesamten EU nicht.

Eine österreichische Situation

In Österreich stellt derzeit die Fristenregelung niemand vernehmbar infrage. Die Praxis ist seit 1975 unverändert. Für Elke Graf, Geschäftsführerin des Pro-Woman-Ambulatoriums für Sexualmedizin und Schwangerenhilfe, ist das sowohl gut als auch schlecht. Gut, weil in Österreich grundsätzlich eine liberale Regelung existiert. "Frauen sind nicht gezwungen, eine gewisse Zeit zu warten, und sie müssen sich nicht rechtfertigen. Ein Arzt oder eine Ärztin muss vor dem Eingriff lediglich über diesen aufklären, das ist es auch schon", erklärt Graf.

Sollte daher an dieser Regelung bloß nichts verändert werden? Dazu wird jedenfalls immer wieder geraten, zuletzt von der früheren Frauenministerin Maria Rauch-Kallat (ÖVP). Keine der Parteien wolle dieses Thema "ohne Not angreifen". Denn eine daraus entstehende Debatte könnte auch eine Verschlechterung für Frauen bringen, warnte Rauch-Kallat. Dieser Politik des "nicht anfassen" kann Elke Graf nichts abgewinnen. Immerhin sei Abtreibung die einzige medizinische Behandlung, die im Strafgesetzbuch steht und innerhalb der ersten drei Schwangerschaftsmonate lediglich straffrei gestellt worden ist. Abbrüche könnten im Ärztegesetz geregelt werden – oder ganz ohne ein Gesetz auskommen, sagt Graf.

In anderen Staaten werden Abtreibungen stärker überwacht. In Deutschland etwa müssen Schwangere verpflichtend eine Beratung in Anspruch nehmen, bevor sie einen Abbruch vornehmen lassen können. Doch in Teilen Österreichs ist der Zugang zu dem Eingriff schlecht.

Privatsache Abtreibung

In Tirol und Vorarlberg sind Frauen auf Angebote von Praxen angewiesen, die es allerdings kaum gibt. Abbrüche in öffentlichen Spitälern gibt es nur in Kärnten, Oberösterreich, Niederösterreich, Wien und in der Steiermark.

Eine verlässliche Liste von Stellen für ganz Österreich, wo sich ungewollt Schwangere hinwenden können, gibt es nicht. Selbst in den Spitälern, wo grundsätzlich Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden, kann man Pech haben, wenn gerade nur Ärzte und Ärztinnen Dienst haben, die sich dafür nicht bereiterklären. Wer eine Abtreibung will, muss sich somit durchfragen, wo es möglich ist.

Besser ist die Situation in Wien und Salzburg, wo es eigene Ambulatorien gibt. Niedriger sind die Kosten von 330 Euro jedenfalls im Spital, bei Pro Woman sind es 550 Euro. In den Bundesländern kann man aber oft nicht wählen und muss das bezahlen, was zur Verfügung steht – oder sehr weit fahren.

Genaue Zahlen über Abtreibung gibt es nicht, denn diese ist in Österreich Privatsache. "Wenn sie der Staat finanzieren würde, könnte er auch Informationen sammeln", sagt Graf. Eine Statistik würde viele Fragen, etwa nach Motiven und dem Warum, aufwerfen. Graf sieht die Gefahr, dass dadurch Frauen stigmatisiert werden und über "gute oder schlechte Gründe" diskutiert wird. Doch es gibt nie nur den einen, sondern immer mehrere Gründe für eine Abtreibung, sagt Graf. Etwa: kein Geld, instabile Beziehung oder die Rücksicht auf Kinder, die schon da sind. (Irene Brickner, Beate Hausbichler, Jakob Pflügl, 3.7.2022)