Innerhalb von nur einer Woche hat der Supreme Court in den USA das Waffenrecht gelockert, das Abtreibungsrecht gekippt und die Klimaschutzbehörde entmachtet.

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Auf diesen Moment hat das liberale Amerika mehr als 200 Jahre gewartet. Doch als am Donnerstag die erste schwarze Frau als Richterin am höchsten Gericht der USA vereidigt wird, ist niemand zum Feiern zumute. Keine zwei Stunden vor der historischen Zeremonie hat die rechte Mehrheit der Verfassungsrichter faktisch die Klimapolitik von Joe Biden beerdigt.

Während drinnen im Supreme Court die Afroamerikanerin Ketanji Brown Jackson ihre linke Hand auf eine Bibel legt und mit der rechten schwört, die Verfassung zu verteidigen, zieht draußen auf der Straße ein Demonstrationszug vorbei.

"Wir wollen Freiheit, wir wollen Gerechtigkeit – und zwar sofort!", wird skandiert. "Fuck SCOTUS", steht auf einigen Plakaten – eine derbe Beschimpfung des "Supreme Court of the United States". "Abort the Court!" (Treibt das Gericht ab!), fordern andere unfreundlich.

Die USA sind in Aufruhr. Und im Zentrum steht ausgerechnet jene Institution, die nach dem Willen der Gründerväter wichtige Streitfragen abschließend klären sollte. In der Praxis ist der Oberste Gerichtshof schon lange politisiert. Doch seit die demokratische Partei vor eineinhalb Jahren das Weiße Haus und beide Kammern des Kongresses übernommen hat, wirken die rechten Richter am Supreme Court wie eine von Ex-Präsident Donald Trump programmierte politische Schläferzelle, deren Mission es ist, das moderne liberale Amerika sturmreif zu bomben.

Waffen, Abtreibung, Klima

Eine Gruppe von Demokraten und moderaten Republikanern hatte sich nach den Angriffen von Buffalo und Uvalde gerade auf eine minimale Verschärfung des Waffenrechts geeinigt, als das Gericht am Donnerstag der vergangenen Woche die 100 Jahre alten New Yorker Restriktionen für das Tragen einer Pistole auf der Straße einkassierte. Am nächsten Tag kippte der Supreme Court das von ihm selbst 1973 eingeführte Recht auf Abtreibung und ermöglichte damit deren Verbot in 26 Bundesstaaten. Schließlich untersagten die Richter an diesem Donnerstag der Umweltbehörde EPA, die Emission von Treibhausgasen weiterhin effektiv zu beschränken.

Waffen, Abtreibung, Klimaschutz – in gerade mal einer Woche hat der neunköpfige Gerichtshof die USA tiefgreifender verändert, als es Präsident Biden mit seinen wackligen Mehrheiten in den gesamten vier Jahren seiner Amtszeit schaffen dürfte. Gleichzeitig wirkt das politische System zunehmend handlungsunfähig, weil der Präsident und das Parlament nicht an einem Strang ziehen, die hauchdünnen Mehrheiten in beiden Kammern nur auf dem Papier stehen und die nach rechtsaußen gerückten Republikaner auf Obstruktion statt Kompromisse setzen.

Wenn es einen Drahtzieher hinter dem perfiden Plan der Machtverschiebung vom Kongress zum Supreme Court gibt, dann ist es Mitch McConnell, jener griesgrämig blickende, knallharte Einpeitscher der Senats-Republikaner. Drei Jahrzehnte waren die politischen Kräfteverhältnisse am Supreme Court halbwegs ausgeglichen gewesen.

Mehrheit für Jahrzehnte

Doch McConnell blockierte die Ernennung des damaligen Richters Merrick Garland durch Ex-Präsident Barack Obama und drückte nach dem Tod der Linken-Ikone Ruth Bader Ginsburg wenige Tage vor Trumps Abgang die lebenslange Berufung einer weiteren rechten Richterin durch. So zementierte er für Jahrzehnte eine klare rechte 6:3-Mehrheit am Gericht.

Wie weit sich das oberste US-Gericht radikalisiert hat, macht das Abtreibungsurteil deutlich. Die abrupte Aufhebung eines seit 50 Jahre geltenden Rechts verstößt nicht nur gegen die bisherige, auf Kontinuität und Verlässlichkeit ausgerichtete Spruchpraxis. Sie widerspricht auch dem Willen der US-Bevölkerung, die mit einer Zweidrittelmehrheit das Recht der Frauen, über ihren Körper zu bestimmen, beibehalten will. Doch die gesellschaftlichen Realitäten sind den Verfassungsfundamentalisten gleichgültig. Offen merkte der ultrarechte Richter Clarence Thomas in der Urteilsbegründung an, dass nach seiner Meinung auch die Ehe für alle und Verhütungsmittel verboten werden müssten.

Inhaltlich argumentiert der Supreme Court durchaus widersprüchlich. So kippte das Gericht das Abtreibungsrecht, weil es von den Bundesstaaten zu regeln sei. Umgekehrt sprach es dem Bundesstaat New York das Recht ab, in Eigenverantwortung strengere Waffengesetze zu formulieren. Es untersagte der Umweltbehörde EPA die Begrenzung des Schadstoffausstoßes von Kohlekraftwerken, weil dies alleine die Kompetenz des Parlaments sei. Das aber wäre völlig überfordert, detaillierte Grenzwerte und Durchführungsbestimmungen zu erarbeiten.

Rechter Kulturkampf

Der gemeinsame Nenner hinter den Urteilen ist alleine der rechte Kulturkampf – gegen Abtreibung, für Waffen und für die von Trumps einstigem Vordenker Steve Bannon ausgerufene "Zerstörung des Verwaltungsstaats".

Entsprechend alarmiert sind viele Beobachter. "Das Gericht ist außer Kontrolle, und wir fühlen uns machtlos, etwas dagegen zu tun", schreibt die Kolumnistin Maureen Dowd in der New York Times: "Es ist so weit gekommen, dass verantwortungslose Extremisten diktieren, wie wir leben."

Kritikerinnen und Kritiker fordern nun eindringlich, das Abtreibungsrecht in einem Bundesgesetz festzuschreiben, die Filibuster-Regelung im Senat abzuschaffen, die wichtige Entscheidungen an eine unerreichbare 60-Prozent-Mehrheit knüpft, oder auch den Supreme Court mit linken Richtern bis zu einem politischen Gleichstand aufzustocken. Das Problem: Für keine dieser Ideen gibt es bislang eine Mehrheit im Kongress.

Derweil lässt das Höchstgericht an seiner Agenda keinen Zweifel. In der im Herbst beginnenden Sitzungsperiode will es ernsthaft verhandeln, ob die Bundesstaaten künftig in eigener Verantwortung frei die Regeln für Präsidentschaftswahlen festlegen dürfen. Das alleine klingt schon bizarr. Skandalös macht die Sache ein pikantes Detail: Richter Thomas ist mit einer rechtsextremen Aktivistin verheiratet, die offen Trumps Lügenkampagne von der gestohlenen Wahl unterstützt. (Karl Doemens aus Washington, 2.7.2022)