Der letzte zahlende Gast hat einen weiten Weg zurückgelegt. Dominic, ein hochgewachsener Brite aus Northampton, ist erst am Vormittag aus dem Zug am nahen Westbahnhof gestiegen. Dann, spontan und von Durst getrieben, hat er das von außen eher unscheinbare Kaffeehaus am vielbefahrenen Gürtel betreten, ein erstes Bier als Hitzekonter. Die Bedienung sagte ihm, dass sein erster Besuch auch sein letzter sein würde: Das Café Westend schließt – laut offizieller Zeitrechnung nach 127 Jahren.

Erst im Jahr 2018 wurde das Westend in Wien-Neubau neu übernommen und renoviert.
Foto: Oliver das gupta

Am Abend ist Dominic wiedergekommen. Als er um 22 Uhr die Rechnung beglichen hat, geht der Engländer über das knarzende Fischgrätenparkett durch die hohen Räume, knipst mit dem Handy Fotos von den Stuckdecken aus der Monarchie und den Lustern der unmittelbaren Nachkriegszeit. "Das ist ein Stückchen altes Mitteleuropa, und das endet jetzt", sagt er. Es klingt ehrfürchtig.

Zuvor hatte sich an diesem letzten Tag im Juni die Nachricht vom plötzlichen Ende des Westend verbreitet. Auch andere namhafte Häuser haben in den vergangenen Jahren zusperren müssen: Im Griensteidl, zuletzt Café Klimt, direkt am Michaelerplatz, sind eine edle Boutique und ein Supermarkt untergebracht. In direkter Nähe traf es unlängst das Café Hofburg. Und nun eben das Westend, in dem seit Zeiten von Kaiser Franz Joseph I. Unmengen an Melange, Strudel und Würstl serviert wurden.

Dutzende Anrufe

Im Laufe des Donnerstags hätten dutzende Menschen im Westend angerufen, sagt ein Kellner. Manche hätten fassungslos geklungen, einer habe versucht, für nächste Woche noch einen Tisch für neun Personen zu reservieren. Einige seien vorbeigekommen, um noch einmal zu schauen. Geblieben sind wenige, wie der emeritierte Professor, der mit seiner erwachsenen Tochter einen Spritzer trinkt und vom Westend in vergangenen Zeiten erzählt.

Wie am Donnerstag bekannt wurde, wird das Westend seine Pforten nicht mehr öffnen.
Foto: Oliver das gupta

Wehmut klingt bei den Gästen durch, bei manchen auch etwas schlechtes Gewissen. Häufig sind sie am Café an der Ecke zur Mariahilfer Straße vorbeigegangen, eher selten hinein. Und das scheint auch ein Teil der Erklärung zu sein, weshalb das Lokal dichtmacht: Das Publikum kam, aber eben nicht zuhauf. Und in der kalten Jahreszeit, wenn die Kaffeehäuser Hochsaison haben, gab es seit 2020 Ausfälle: Corona-Wellen, Lockdowns, Stammgäste, die aus Vorsicht zu Hause blieben.

Die Monatsmiete von fast 20.000 Euro habe der Pächter Hans Diglas junior nicht mehr berappen wollen, heißt es. Wie DER STANDARD erfuhr, sollen in den vergangenen Tagen auch drei Servicekräfte gekündigt haben. Ob Zufall oder nicht: Unmittelbar nach dem kommunizierten Abgang der Kellner entschied Diglas, den Laden dichtzumachen.

Dabei hatte er den Betrieb erst 2018 übernommen. Diglas renovierte dezent: Die Toiletten wurden erneuert, Bilder aufgehängt, die Theke umgestellt. Das Westend wurde wieder mehr zur Anlaufstation für Wienerinnen und Wiener; leicht erreichbar, selten überlaufen. Anziehungspunkt für Touristenmassen war es nie, Schlangen wie vor dem Café Central, Demel oder anderen Citycafés blieben aus.

Kaiserschmarren gibt es nicht nur in den Touristen-Hot-Spots wie dem Demel.
Foto: Oliver das gupta

Der von Architekt Robert Prihuda errichtete Zachariashof, in dem das Westend zu finden war, überstand Welt- und Bürgerkriege unbeschadet. Aber passt eine Institution wie ein Kaffeehaus überhaupt noch in diese Zeit?

Nach Dienstschluss versammelt sich die rein männliche Spätschicht zum Feierabendbier. Einer will sich in Tirol nach einem Hoteljob umsehen, ein anderer auf einem Kreuzfahrtschiff anheuern, ein Dritter möchte endlich studieren. Und der Auszubildende wird schon am Wochenende bei einem anderen Café weitermachen, das Diglas betreibt.

Die Stimmung ist nostalgisch, Erinnerungen werden ausgetauscht. Einer erzählt von einem alten, längst in Pension befindlichen Kellner, der noch Falco bedient haben soll. Ein anderer zeigt auf einen Ecktisch, dort habe mal ein Interview mit dem Kabarettisten Josef Hader stattgefunden. Und er weiß noch mehr: Für eine ältere Kaffeehausbesucherin sei dieser Platz mit anderen, viel älteren Erinnerungen verbunden, sagt er. "Im Krieg hat sie als Mädchen dort ihren Schlafplatz gehabt, weil ihr Wohnhaus zerstört war."

Gespräche mit der Stadt

Was nun aus dem Westend werden wird, ist bislang offen. Im Hintergrund scheint es Verhandlungen zu geben. In der Stadt Wien will man das Traditionscafé jedenfalls noch nicht abschreiben: Aus dem Büro von Finanzstadtrat Peter Hanke (SPÖ) heißt es, seit Donnerstagabend liefen bereits Gespräche zwischen Diglas und der Stolz auf Wien Beteiligungs GmbH, denen man am Freitag aber nicht vorgreifen wollte. Diese GmbH ist ein Tochterunternehmen der Wien Holding. Sie wurde gegründet, um sich – temporär – an lokalen Unternehmen zu beteiligen, deren Existenz wegen der Pandemie gefährdet ist. Dabei wird den Unternehmen, die finanzielle Hilfe benötigen, Eigenkapital zur Verfügung gestellt. Eine Beteiligung ist auf maximal zwei Millionen Euro oder 20 Prozent der Gesellschafteranteile pro Unternehmen begrenzt. Sie soll nach spätestens sieben Jahren wieder an die Eigentümerinnen zurückgegeben werden.

Die Aktion wird noch bis September fortgesetzt, heißt es aus dem Rathaus. Es wäre also noch Zeit für das Westend. Rund 40 Millionen Euro, davon kam die Hälfte von der Stadt, waren zu Beginn zur Verfügung gestellt worden. Bisher wurden laut Stadt so 32 Unternehmen gerettet. Darunter auch ein anderes Urgestein der Wiener Kaffeehäuser: das vergangenes Jahr insolvent gewordene Café Ritter in Ottakring.

Zu oft blieben die Gäste in der Pandemie aus. Das Westend ist am Ende.
Foto: Oliver das gupta

Laut "Falter" soll Westend-Betreiber Diglas jedoch bereits für eine Zugabe abgewunken haben. Dass es mit einem anderen Pächter nach einer Sommerpause wie bisher weitergeht, glaubt das scheidende Personal eher nicht. Vielleicht werde ja in den Räumen demnächst ein Starbucks eröffnet, sagt ein Wiener, "oder ein edles Sushilokal". Es soll lustig klingen, aber niemand lacht. (Oliver Das Gupta, Oona Kroisleitner, 1.7.2022)