Peter Brook zählte zu den wichtigsten Theatermachern Europas.

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Theater beginnt nicht mit dem Publikum am Abend, sondern mit der Lebensweise des Publikums, so Peter Brook. An dieser simplen wie ungewöhnlichen Behauptung lässt sich das Theater-Grundverständnis des 1925 in London als Sohn lettischer Einwanderer geborenen britischen Regisseurs und Bühnengurus erahnen: Das Theater ist organisch, eine zwischen Bühne und Publikum entstehende Erfahrung von spiritueller Tiefe.

Folglich, so stellt Peter Brook klar, sei "Theater ganz gewiss keine Diskussion unter gebildeten Menschen". (Das ist eine Aussage, die im deutschsprachigen Literaturtheater lange Zeit falsch verstanden wurde – denn bei Brook ist Intellekt keineswegs verboten.) Theater sei vielmehr ein energetisch-emotionale Prozess, bei dem der Intellekt bestenfalls berührt werde. Mehr körper- als kopflastig sind deshalb auch die Trainings- und Probentechniken des in Paris beheimateten britischen Regisseurs. 14 Wochen Probenzeit waren für den Sturm mit Paul Scofield zu wenig. Brook: "Ja, wir verschwenden viel Zeit, aber genau dadurch ersparen wir sie dem Publikum."

Performatives Erforschen

Das performative Erforschen eines Textes war also für Brook immer das Entscheidende. Seine Regietätigkeit, die ihn bereits Anfang der 1950er-Jahre international bekannt machte (u.a. tourte er mit Maß für Maß des Stratford-Ensembles durch Deutschland) mündete 1970 in die Gründung eines Theaterlabors. Brook gab damals seine Karriere zwischen dem Londoner Westend und dem New Yorker Broadway samt seiner Kodirektorenstelle bei der Royal Shakespeare Company auf und baute in Paris das Forschungsinstitut C.I.R.T. (Centre International de Recherces Théâtreales) auf. Da hatte der Meister seine kanonisierten Theaterbekenntnisse Der leere Raum (1968) bereits publiziert. 1993 folgte sein zweites wichtiges Werk, Das offene Geheimnis, den beiden Kindern Irina und Simon gewidmet, das seine weltweit gesammelten Theatererfahrungen nochmals aufschlüsselte. Die Schriften sind von herzhafter Ehrlichkeit und Gewitztheit. So steht geschrieben: "Das tödliche Theater erkennt man auf den ersten Blick daran, dass es schlechtes Theater ist."

1974 zog die internationale Truppe ins Théâtre des Bouffes du Nord ein; bis 2000 blieb Brook ihr künstlerischer Leiter. Von dort aus unternahm die Company weltweit Gastspielreisen. Eine besonnen zelebrierte Hamlet-Version mit Adrian Lester in der Titelrolle vermittelte anno 2000 dem Wiener Festwochenpublikum Brooks Zen-Kunst; wenige Jahre später war es dann das Stück Tierno Bokar über den gleichnamigen großen malischen Sufi-Mystiker und Märtyrer (1875–1939), dem Brook auf einer seiner Afrika-Expeditionen auf der Spur war. 2017 war Brook noch einmal mit Battlefield bei den Festwochen zu Gast.

Shakespeare und Orient

Zu den bedeutendsten Inszenierungen Brooks gehören seine Shakespeare-Interpretationen, von denen in den 1970er- und 1980er-Jahren einige als Vorbilder moderner Regiearbeit um die Welt gingen (König Lear, Sommernachtstraum, Sturm oder Timon von Athen). Legendär wurde das über einen Zeitraum von zehn Jahren hin entwickelte, die Urgeschichte der Menschheit erzählende Sanskrit-Epos Le Mahabharata, das bei seiner Uraufführung in Avignon 1985 Tag- und Nacht beanspruchte. Ebenso The Iks mit Brooks langjährigen künstlerischen Weggefährten Miriam Goldschmidt, Yoshi Oida und Bruce Myers (1975), ein auf den Berichten des Ethnologen Colin Turnbull beruhendes Stück über einen ugandischen Volksstamm. Oder L‘homme qui (1993), eine Fassung nach Oliver Sacks’ Bestseller Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte.

Peter Brook, ein Anhänger des armenisch-griechischen Esoterikers Georges I. Gurdjieff, ist von der orientalischen Tradition des Erzählens inspiriert und geprägt worden. Das hat ihn auf entscheidende Distanz gebracht zu der dialogisch und gedankenlastig organisierten westlichen Theatertradition. Das Theater galt dem "Zenmeister der Moderne" als Gemeinschaftserlebnis, als einigendes Ritual (wodurch er Bertolt Brecht, der den zersetzenden Effekt suchte, diametral gegenüberstand).

Seine Recherchen führten Brook in bengalische Dörfer, wo er die Chauu-Zeremonie kennenlernte, oder in den Iran, wo er die islamische Form des Mysterienspiels (Ta‘azieh) studierte. Er befasste sich mit dem japanisches Kabuki, dem indischen Kathakali und dem balinesischen Maskentheater.

Multikulturelles Körpertheater

Peter Brook zog es weg vom logozentrischen Theater des Abendlandes, gegen das auch schon Antonin Artaud kräfteraubend vorging, und hin zu einem Körpertheater multikultureller Wurzeln. Urs Jenny nannte Brooks Schaffen einmal "Welttheater im Alleingang". Der weitgereiste Mann, der sein Denken maßgeblich anhand eigener Erfahrungen vorantrieb, operierte mit kulturell unterschiedlich geprägten Schauspielerkörpern (wobei der europäische Körper meist der am wenigsten "befreite" war).

Auch die "papierene" Probenarbeit hat der Theaterpraktiker von sich gewiesen: "Die mitteleuropäische Vorgehensweise ist mir ein Graus, wo man wochenlang an einem großen Tisch sitzt, um die Bedeutungsebenen eines Textes zu ermitteln, bevor man ihn in seinem Körper spüren darf. (...) Dieses Prinzip ist geeignet für eine militärische Operation."

Purismus als Ergebnis der Formsuche

Im Theater Peter Brooks wurde Körpersprache großgeschrieben, Requisite klein. Die Bühnen blieben oft jene leeren Räume, aus denen der Theatervisionär seinen Begriff von Dramatik ableitete. Die Bezeichnung "einfaches Theater" wies Brook indes zurück. Auch wenn die Optik puristisch schien, so war sie das Ergebnis ausgeprägten Eliminierens und Ausdruck intensiver Formsuche. Denn – ein Zitat des überzeugten Regietheatermachers: "Was geschrieben und gedruckt wird, hat noch keine dramatische Form. (...) Eine unendliche Menge unerwarteter Formen kann aus denselben Elementen erwachsen".

Neben den Generationskollegen Eugenio Barba, Richard Schechner und Jerzy Grotowski, die sich allesamt der Suche nach einer grenzüberschreitenden Theatersprache widmeten, war Peter Brook der größte. Ein Philosoph, der das Denken gut versteckte. Am Sonntag ist der Meisterregisseur nun in Paris verstorben. (Margarete Affenzeller, 3.7.2022)