Allerhand überzeichnete Gestalten aus allen sozialen Schichten: "Nur Ruhe!" bei den Nestroy-Spielen.

Foto: Barbara Palffy

Nach 50 Jahren gibt Intendant und Regisseur Peter Gruber die Nestroy-Spiele-Schwechat ab. Seine Abschiedsinszenierung ist eine zutiefst fatalistische: Nestroys Nur Ruhe!, zur Entstehungszeit kurz vor der 1848er-Revolution höchst unbeliebt beim Publikum und nach wie vor kaum gespielt, zeigt die Menschheit nicht eben von ihrer besten Seite. Berechnende, kaum je über den eigenen Tellerrand, geschweige denn die eigene Lebenszeit hinausblickende Figuren taumeln hier durch eine aufgekratzte Handlung. Der Besitzer einer Lederfabrik am Rande der Stadt (so wie einst die Rothmühle in Schwechat, Spielort der Nestroy-Spiele) will an seinem 55. Geburtstag an Neffe Heinrich übergeben und endlich seine Ruhe. Natürlich tritt das Gegenteil ein, sonst ließen sich zweieinhalb Stunden (inklusive Pause) kaum füllen. Allerhand überzeichnete Gestalten aus allen sozialen Schichten kreuzen auf und es gibt Zores.

Eskalationsstufen

Die eher unterschwellige vormärzliche Gereiztheit konkretisiert und überhöht Gruber mit wenigen aber deutlichen Aktualisierungen, vor allem in den Couplets: Nicht nur Klassen- und Geschlechterkonflikte bedrohen die Ruhe, sondern auch Pandemie, das "Damoklesschwert" Weltkrieg, Inflation und Klimakatastrophe. Wen wundert, dass der souveräne Rainer Doppler als Lederfabrikant Schafgeist keine ruhige Minute mehr hat. Dabei muss er sich ohnehin um heimlich Verliebte, despotische Väter, übersteuerte Verkuppelungs-Intrigen (bei denen ein Exhibitionist mit pinker Zorro-Maske beteiligt ist), vermeintliche Mordanschläge und untergeschobene Kinder kümmern.

Das Ensemble arbeitet sich auf der klassisch in zwei Ebenen aufgeteilten Bühne (auch Kostüme: Andrea Költringer) mit Schmackes durch die quasi minütlich ansteigenden Eskalationsstufen: Marc Illich als Werksführer am Rande des Nervenzusammenbruchs, Eric Lingens als völlig unfähiger aber selbstverliebter Firmenerbe, der versoffen-verschlagene Lederergesell Rochus Dickfell (Christian Graf) und seine Ziehtochter Leocadia (als Tussi im Leoparden-Outfit: Michelle Haydn). Dann taucht noch die neureiche Familie eines gewissen Herrn von Hornissl (jovial, aber die Krawatte in den Farben der 48er-Revolution fast auf Trump-Länge: Michael Scheidl) mit Neffe (Beruf Sohn, Wortschatz "Oida!": Florian Haslinger) auf, und das Chaos ist komplett.

Eindimensional, doch überzeugend

Die Figuren bleiben eindimensional, aber das Ensemble überzeugt. Und Gruber inszeniert mit Liebe zum Detail: Die Mauerschau (griech. teichoskopie), in der vom Autounfall der Hornissls berichtet wird, findet tatsächlich an einem Teich (in Wahrheit ein Planschbecken) statt, die proletige Leocadia kratzt sich permanent im Schritt. Dass der latente Sexismus fokussiert ausgespielt wird, sorgt für große Lacher. So erklärt Hornissl-Tochter Peppi (Rosa Wimmer) mit Dauer-Schmollmund: "Ich habe keinen Willen". Mit geschminkten Veilchen wird häusliche Gewalt angedeutet.

Wirklich gesellschaftskritischer Biss fehlt dem Abend ein wenig, eher überwiegt die Wehmut über den desolaten Zustand der Welt (die dem Stück ein wenig aufgepfropft wirkt). Aber, wie Fabrikant Schafgeist anmerkt: Er mit seinen 55 wird es ja nicht mehr erleben müssen. (Andrea Heinz, 4.7.2022)