Die Humboldt-Universität äußerte Bedauern über die Situation und will die Absage nicht als Zensur verstanden wissen.

Foto: Humboldt Universität Berlin/Heike Zappe

"Geschlecht ist nicht gleich Geschlecht. Sex, Gender und warum es in der Biologie nur zwei Geschlechter gibt" hätte der Titel jenes Vortrags gelautet, den die Biologie-Doktorandin Marie-Luise Vollbrecht am Samstag im Rahmen der "Langen Nacht der Wissenschaften" an der Humboldt-Universität Berlin halten wollte. Die Universität sagte den Vortrag jedoch kurzfristig ab – Studierendenvertreter hatten im Vorfeld dagegen mobilgemacht und argumentierten, dass Vollbrecht in ihrem Vortrag Queerfeindlichkeit verbreiten würde.

Vollbrecht, die auch wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität Berlin ist, ist keine Unbekannte in der Genderdebatte. Kürzlich positionierte sie sich als Ko-Autorin eines Kommentars zu "Vielgeschlechtlichkeit" in der "Welt" klar aufseiten jener, für die feststeht, dass das biologische Geschlecht binär ist. Die fünf Autoren argumentierten darin, dass Zweigeschlechtlichkeit eine "bestätigte wissenschaftliche Erkenntnis" sei. Tatsächlich ist der wissenschaftliche Konsens nicht so eindeutig.

Zwei Geschlechter, oder fünf?

In den vergangenen Jahrzehnten brachten zahlreiche wissenschaftliche Beiträge die lange Zeit als gesetzt geltende These der Zweigeschlechtlichkeit ins Wanken. Eine gewichtige Stimme nahm dabei etwa die US-amerikanische Biowissenschafterin Anne Fausto-Sterling ein, sie ist Professorin Emerita für Biology und Gender Studies an der renommierten Brown University in Providence, Rhode Island. Bereits in den frühen 1990er-Jahren machte Fausto-Sterling den – wie sie selbst einmal feststellte, "provokativen" – Vorschlag, dass es nicht nur zwei, sondern fünf Geschlechter gebe. Die Arbeit "The Five Sexes" war ein Meilenstein in der Geschlechterforschung und führt bis heute zu hitzigen Diskussionen.

Im Zentrum der Debatte steht die Frage, ob nicht nur das soziale Geschlecht (im Englischen und immer öfter auch im Deutschen wird dafür die Bezeichnung "gender" verwendet) mehr als zwei Kategorien kennt, sondern auch das biologische Geschlecht (im Englischen "sex") nicht rein binär ist. Historisch hatte die Wissenschaft lange Zeit einen blinden Fleck gegenüber Intersex-Personen, die biologisch weder zu 100 Prozent dem männlichen Geschlecht noch zu 100 Prozent dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind. Diese Ignoranz resultierte in problematische medizinische Praktiken, wonach Neugeborene, die nicht klar einem Geschlecht zugeordnet werden konnten, Operationen unterzogen wurden – oftmals mit verheerenden persönlichen Folgen für die Betroffenen.

Seit den frühen Vorstößen von Fausto-Sterling und anderen Forscherinnen und Forschern hat das Modell der Mehrgeschlechtlichkeit zunehmend an Momentum gewonnen. Das Thema Intersex wurde in der Wissenschaft enttabuisiert und immer weiter empirisch erforscht. Dennoch teilen in den Fachwelt längst nicht alle die Ansicht, dass es einer Erweiterung des dichotomen biologischen Geschlechterverständnisses bedarf. In ebendiese Debatte stößt Marie-Luise Vollbrecht mit der kantigen These, wonach es in der biologischen Definition nur zwei Geschlechter geben könne.

Universität "bedauert" die Absage

Dass Berliner Studierendenvertreter darin "Queerfeindlichkeit" orteten und zu Protesten aufriefen, dürfte auch für Vollbrecht selbst keine besonders große Überraschung gewesen sein. Die Entscheidung, ihren Vortrag kurzfristig abzusagen, begründete die Humboldt-Universität mit Sicherheitsbedenken angesichts der Protestankündigungen. "Wir bedauern sehr, dass Frau Vollbrecht den Vortrag nicht halten kann", wird die Kommunikationschefin der Universität, Birgit Mangelsdorf, von deutschen Medien zur Absage zitiert.

Im Gespräch mit der deutschen "Bild"-Zeitung deutete Vollbrecht die Absage im Kontext der Cancel Culture: "Das Einknicken vor radikalen gewaltbereiten Aktivisten, die kein Verständnis von Biologie haben, ist verständlich, aber alarmierend", sagte Vollbrecht. Es könne nicht mehr von einer sachlichen Debatte gesprochen werden, "wenn Veranstaltungen aus Angst vor Gewalt abgesagt werden". Der Vorfall sei ein weiteres Beispiel, "mit welchen radikalen Mitteln Genderideologen vorgehen".

Vortrag könnte nachgeholt werden

Die Humboldt-Universität will wiederum den Vorwurf der Zensur nicht auf sich sitzen lassen: "Wir begrüßen den Austausch bei uns, auch zwischen den unterschiedlichsten Meinungen", sagte Mangelsdorf. Die Absage sei nicht als inhaltliche Aussage zu deuten, sondern sei getroffen worden, um die Sicherheit aller Beteiligten zu gewährleisten. Man wolle auch versuchen, den Vortrag in irgendeiner Weise nachzuholen, wenn auch womöglich nicht in der ursprünglich geplanten Form: "Wir werden das Thema und vor allem den Kontext, in dem es diskutiert wird, zu einem späteren Zeitpunkt aus unterschiedlichen – auch kontroversen – Perspektiven beleuchten", sagte die Uni-Kommunikationschefin.

Im Nachgang der Absage hat sich laut Angaben der "Bild"-Zeitung auch die deutsche Wissenschaftsministerin Bettina Stark-Watzinger kritisch zur Entscheidung der Uni, den Vortrag abzusagen, geäußert. "Es darf nicht in der Hand von Aktivisten liegen, welche Positionen gehört werden dürfen und welche nicht", wird Stark-Watzinger von "Bild" zitiert. Die Studierenden, die im Vorfeld mobilgemacht haben, fordere Stark-Watzinger laut "Bild" auf, die Freiheit der Wissenschaft zu akzeptieren: "Wissenschaft lebt von Freiheit und Debatte. Das müssen alle aushalten." (trat, 3.7.2022)