Der an der Medizinischen Universität Wien tätige Institutsleiter Wolfgang Schreiner zeigt sich im Gastkommentar verwundert über das Vorgehen der Regierung hinsichtlich der Impfpflicht und sieht in den möglichen Gründen sogar einen Bankrott der Demokratie.

Überraschend hat die Bundesregierung das Impfpflichtgesetz aufgehoben und damit ein wesentliches Steuerungselement betreffend Covid aus der Hand gegeben.

Vor Einführung der Impfpflicht wurde monatelang abgewogen zwischen dem Schutz von Persönlichkeitsrechten, gesundheitlichen Vorteilen Einzelner und dem Nutzen für die Allgemeinheit. Also weniger schwere Verläufe und Langzeitfolgen auf der einen Seite und weniger überlastete Spitäler und verschobene Behandlungen sowie die Vermeidung von Einschränkungen oder gar Lockdowns auf der anderen Seite.

"Die Impfpflicht bringt niemanden zum Impfen": Gesundheitsminister Johannes Rauch begründet so ihr Aus.
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Ein Grundproblem der Debatte war, dass der Eingriff in die Persönlichkeitsrechte bei jedem Einzelnen eintritt, der Nutzen jedoch nur statistisch gegeben ist. Immer gab es Gegenbeispiele. Auf diese beriefen sich Impfgegnerinnen und Impfgegner und verhinderten monatelang ein Vorankommen. Ähnlich war das bei der Gurtenpflicht. Damals wurde heftig polemisiert, und alle möglichen Horrorszenarien wurden konstruiert. Etwa: "Ich falle mit dem Auto ins Wasser und ertrinke, weil ich angeschnallt bin." Wie viele sind seither tatsächlich deswegen ertrunken? Heute können wir über diese Art der Argumentation nur mehr lächeln.

An Erfordernisse anpassen

Eine wesentliche Quelle der Verunsicherung resultiert aus den nicht vorhersagbaren Mutationen des Virus und der lange dauernden Entwicklung von Impfstoffen. Genau aus diesem Grund wurde das Gesetz so ausgestaltet, dass es eigentlich keine Pflicht zu einer speziellen Impfung vorsah, sondern lediglich eine Impfpflicht ermöglichte, die per Verordnung kurzfristig und den aktuellen Erfordernissen angepasst erlassen werden konnte. Mit dem "Impfpflichtermöglichungsgesetz" – wie es eigentlich heißen müsste – wurde ein bestmögliches Werkzeug geschaffen, die Auswirkungen von Covid künftig zu reduzieren.

Genau dieses Werkzeug hat die Regierung nun aus der Hand gegeben. Warum? Kein Mechaniker würde sein Werkzeug weglegen, wenn er tatsächlich reparieren will.

Erst vor kurzem wurden vier Szenarien präsentiert, die im kommenden Herbst eintreten können, von allen relevanten Fachleuten einhellig bewertet und von der Regierung als Leitfaden kommuniziert. Impfungen spielen in einigen dieser Szenarien unverzichtbare Schlüsselrollen. Gleichzeitig konnte man aber bisher beobachten, dass die freiwillige Impfung zu keiner Durchimpfungsrate geführt hat, wie sie notwendig wäre, um etwa schwerwiegenden Mutationen Herr zu werden. Hohe Impfraten auf freiwilliger Basis in der Lombardei oder Portugal wurden nur durch viele Todesfälle motiviert, entstanden durch verantwortungslose Politik zuvor. Niemand würde ja auch meinen, dass ein freiwilliges Tempolimit zu angemessenem Fahrverhalten führen würde. Dieser Vergleich trifft recht gut: Überhöhte Geschwindigkeit ist für den Lenker selbst ein zusätzliches Risiko – und ebenso für die Allgemeinheit. Warum sollte man beim Virus annehmen können, dass ohne Pflichten (statistisch gesehen) ausreichend vernünftig entschieden wird? Bisher geschah es jedenfalls nicht.

Spalt in der Gesellschaft?

Warum legen unsere Politiker das Werkzeug zur Seite? Offiziell wurde argumentiert – vor allem seitens des grünen Gesundheitsministers –, dass die Impfpflicht (die ja noch gar keine ist) die Bevölkerung zu sehr spalte. Auch der schwarze Bundeskanzler stimmte ein. Wo ist der einstige Enthusiasmus in der Pandemiebekämpfung, das "Koste es, was es wolle"? Jetzt, wo wir die Impfung haben, sind uns schon ein paar Stiche zu viel? Ein beispielloser, jahrelanger Marathon des Gesundheitspersonals hielt die Kliniken am Laufen. Die Forschung hat ein Meisterstück hingelegt bei der Impfstoffentwicklung – und jetzt will die Regierung das Werkzeug Impfung nicht verwenden? Sie gibt einfach den Schlüssel ab? Welche Ausreden werden wir im Herbst hören, wenn vielleicht eine ansteckende und zugleich aggressive Variante auftaucht?

Fürsorglich und verantwortungsbewusst klingt heute die Ausrede: Man wolle die Spaltung der Gesellschaft nicht noch weitertreiben. In Wahrheit hatten Grüne immer schon Probleme mit staatlich verordneten Pflichten; solche gehören zum Gedankengut der Konservativen und Rechten. Und die ÖVP fürchtet die Konkurrenz von FPÖ und MFG, die unisono gegen die Impfpflicht wettern und Wählerinnen und Wähler aus der Mitte an sich ziehen. Es geht also eher um Machterhalt als um Gesundheitspolitik.

Und die Freiheitliche Partei? Eigentlich vertritt sie ja traditionell eine Law-and-Order-Gesinnung – sollte also eigentlich die Impfpflicht befürworten. Wäre sie noch in Koalition mit der ÖVP, so darf man mutmaßen, würde sie auch für die Impfpflicht argumentieren. Aber seit dem Ende der türkis-blauen Koalition muss die FPÖ in erster Linie gegen die ÖVP antreten und erst lange danach für eine vernünftige Gesundheitspolitik. Man muss auftreten gegen das, was der damalige Kanzler Alexander Schallenberg auf den Weg gebracht hat, auch wenn es vernünftig war. Hauptsache sind Wählerstimmen.

Angst vor Stimmenverlust?

Da gab es dann noch Rücktritte von zwei Gesundheitsministern – beide aufgrund von Erschöpfung beziehungsweise persönlicher Bedrohung. Bedrohung durch wen? Gibt es da etwa eine gar nicht so kleine Menge von Wählern (hier mit Absicht nicht gegendert), die ihre Meinung mit Gewaltandrohungen untermauert hat? Erfolgte die Rücknahme des Gesetzes nicht aus Sorge um das Gemeinwesen, sondern aus Angst vor Stimmenverlust oder gar aus der Angst, gewaltbereiten Gruppen nicht mehr Herr zu werden? Kann ein Politiker das Vernünftige nicht mehr tun, ohne dafür bedroht zu werden? Dies wäre ein noch schlimmeres Motiv als die Angst um Wählerstimmen – es wäre ein Bankrott der Demokratie.

Und nun also Eigenverantwortung in einer Gemengelage, in der auch Verschwörungsmythen über die Impfung oder die Unwirksamkeit von Masken in der Bevölkerung stark vertreten sind. Mündige Demokratie in einer komplexen Welt setzt auch Spitzenleistungen der Medien voraus. Noch liegen Sommer und Herbst vor uns – mit sicherlich vielfacher Gelegenheit, dies unter Beweis zu stellen. (Wolfgang Schreiner, 4.7.2022)