Sebastian Kurz (ÖVP) bleibt weiterhin im Fokus der WKStA.

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So intensiv ist rund um den Vorwurf einer Falschaussage wohl schon lange nicht mehr ermittelt worden: Seit mehr als einem Jahr prüft die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA), ob der damalige Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) im Sommer 2021 den Ibiza-U-Ausschuss falsch informiert hat. Ein neuer Amtsvermerk deutet aber an, dass die Ermittlungen kurz vor dem Abschluss stehen.

Frage: Was ist der Inhalt der Auswertung?

Antwort: Die WKStA hat auf 92 Seiten Chatnachrichten zu einer Erzählung über die Nebenabsprachen von Türkis-Blau zusammengefasst. Dafür wurden alte Chats mit einigen neu entdeckten Nachrichten kombiniert und chronologisch aneinandergereiht.

Frage: Was zeigt dieses Dokument?

Antwort: Die Ermittler der WKStA sprechen selbst von einer "Schiefer-Schmid-Vereinbarung", die im Zentrum der Auswertung steht. Dabei handelt es sich um Nebenabsprachen, die von den beiden Regierungsverhandlern Arnold Schiefer (FPÖ) und Thomas Schmid (ÖVP) getroffen wurden.

Frage: Wer sind die beiden?

Antwort: Schmid ist wohlbekannt: Er war jahrelang Generalsekretär im Finanzministerium und hatte da zuletzt Ambitionen, Chef der neuen Staatsholding Öbag zu werden – was dann ja auch klappte. Arnold Schiefer hat ab den 2000er-Jahren in Ministerien und später staatsnahen Betrieben als Manager Karriere gemacht. Er sollte für die FPÖ zum Beispiel das Beteiligungsmanagement des Bundes verhandeln.

Frage: Was soll die "Schiefer-Schmid-Vereinbarung" sein?

Antwort: Die WKStA vermutet einen breitflächigen Deal zwischen ÖVP und FPÖ, was Personalentscheidungen in staatsnahen Unternehmen betrifft. Schon während der Koalitionsverhandlungen im Herbst 2017 sprachen Schiefer und Schmid intensiv miteinander, worüber Schmid auch Sebastian Kurz informierte. Während des ersten Regierungsjahres soll das Personalpaket verfeinert worden sein, entscheidend ist für die WKStA ein Dokument vom Herbst 2018.

Frage: Was ist daran problematisch?

Antwort: Per se ist es in vielen Fällen ja Aufgabe der Politik, gewisse Personalentscheidungen zu treffen. Das betraf oder betrifft in staatsnahen Betrieben wie der OMV, der Casinos Austria AG (Casag) oder der Asfinag die Aufsichtsräte. Deren Mitglieder werden direkt vom Ministerium oder einer zwischengeschalteten Stelle wie der Öbag entsandt. Allerdings ist in diesem Dokument auch die Rede von zusätzlichen "Top Jobs". Das dürfte vor allem den Vorstand, Geschäftsführer oder Abteilungsleiter betreffen. Da hat die Politik per se kein Mitspracherecht, sondern da ist der oder die Beste nach Ausschreibung zu suchen.

Frage: Warum ist das für die WKStA so relevant?

Antwort: Der erste große Ermittlungsstrang nach dem Erscheinen des Ibiza-Videos war die Vorstandsbestellung bei den Casinos, die kurz zuvor im Frühjahr 2019 erfolgt war. Gegen deutliche Bedenken teils langjähriger Aufsichtsratsmitglieder und den Widerstand der tschechischen Sazka, wurde der blaue Lokalpolitiker und Finanzmanager Peter Sidlo zum neuen Finanzvorstand bestellt. Dafür wurde Bettina Glatz-Kremsner, kurz zuvor noch ÖVP-Vizeparteiobfrau, zur Vorstandschefin. Während Glatz-Kremsner zweifellos qualifiziert war, wurde das bei Sidlo angezweifelt. Er wurde aber mit Unterstützung des Glücksspielkonzerns und Casag-Aktionärs Novomatic bestellt – und im Ibiza-Video sprach Strache davon, dass Novomatic "alle zahlt" (was später auch von Strache bestritten wurde).

Frage: Was hat das mit Schiefer und Schmid zu tun?

Antwort: Die Ermittler vermuten, dass der mutmaßliche Casag-Deal eben nur ein kleines Puzzlestück ist, das mit zahlreichen anderen Personalentscheidungen "verschränkt" worden sei. Das betreffe auch Schmid selbst, der fast zeitgleich zur Casag-Bestellung zum Chef der Staatsholding Öbag wurde, genauso wie die Finanzmarktaufsicht.

Frage: Wie kommt Kurz ins Spiel?

Antwort: Im Ibiza-U-Ausschuss wollte die Opposition vom damaligen Kanzler wissen, wie Thomas Schmid Chef der Öbag wurde. Die Vorgänge waren politisch peinlich – als Generalsekretär schrieb Schmid an der Ausschreibung für den Job mit, um den er sich dann bewarb. Ebenso suchte er jene Aufsichtsräte mit aus, die ihn dann zum Chef machten. Kurz stellte seinen eigenen Einfluss auf die Öbag-Personalien vor dem U-Ausschuss als gering dar und verwies auf die Verantwortung von Finanzminister Hartwig Löger. Die WKStA sieht darin eine Falschaussage.

Frage: Was ist im neuen Dokument zu lesen?

Antwort: Da gibt es etwa Chats zwischen Arnold Schiefer und dem damaligen Vizekanzler Heinz-Christian Strache rund um den Öbag-Vorgänger Öbib aus dem Jänner 2018. Schiefer fühlte sich von der ÖVP gelegt, weil die alle Sitze im Nominierungskomitee für sich beanspruchte. Das sei im Gespräch "mit dir, Kurz, Schmid und mir" anders besprochen worden, schrieb Schiefer an Strache. Einen Monat später schlug der damalige Generalsekretär im Bundeskanzleramt Dieter Kandlhofer eine Person für den Aufsichtsrat der Staatsholding vor. Schmid antwortete, Aufsichtsrat "macht Sebastian selber und er hat 3.000 Zusagen gemacht für 9 AR-Jobs". Immer wieder ist von Gesprächen auf "Chef-Ebene", also zwischen Strache und Kurz, zu lesen – auch, was die Öbag betrifft.

Frage: Welche Rolle spielt Siegfried Wolf?

Antwort: Der umstrittene Unternehmer war der Wunschkandidat von Sebastian Kurz für den Posten des Öbag-Aufsichtsratchefs, was aber unter anderem aufgrund der US-Sanktionen gegen Wolfs Chef Oleg Deripaska nicht klappte. Davor ist aber immer wieder die Rede davon – und Schmid wollte das unbedingt verhindern. An den damaligen Kanzleramtsminister Gernot Blümel schrieb er im Jänner 2019: "Bitte sag zu Sebastian – und dem Tom gibst du zum Dank für Budget und Steuern den Sigi als Geschenk mit – echt hart".

Frage: Was bedeutet das für die Ermittlungen gegen Kurz?

Antwort: Aus Sicht der WKStA ist klar, dass der damalige Kanzler viel mehr über die Vorgänge rund um die Öbag gewusst hat, als er dem Parlament erzählte. Zum Thema Aufsichtsräte sagte er etwa: "Ich weiß, dass ich diese Aufsichtsräte nicht ausgewählt habe" oder "Ich kann mir gut vorstellen, dass es immer wieder Brainstorming-Runden von Hartwig Löger, von Thomas Schmid, vom Nominierungskomitee und von anderen gegeben hat, wer als Aufsichtsrat nominiert werden könnte". In Chats informierte Schmid jedoch Kurz über Kandidaten und schrieb, er habe einer Managerin gesagt: "Ich habe klargestellt, dass ein Finanzminister nur einen Herrn hat, und das ist der Kanzler. Personal und Budget sind politische Themen, die Kanzleramt und ich abstimmen." Kurz' Antwort: "Wo kommt die her? Auch aus Wien?" An Hartwig Löger schrieb Schmid, Kurz habe eine Kandidatin "heute schon diskutiert"; die Assistentin einer späteren Aufsichtsrätin schrieb an einen Manager, dass "vom Bundeskanzler abwärts Anrufe" reinkämen.

Frage: Was wird Kurz bezüglich der "Schmid-Schiefer-Vereinbarung" vorgeworfen?

Antwort: Im U-Ausschuss meinte der Kanzler: "Ich habe keine Ahnung, was die vereinbart haben, ob das eine Personalagenda war, ob das Budgetfragen waren – keine Ahnung." In Chats spricht Kurz selbst nicht über einen Deal zwischen Schmid und Schiefer; allerdings war der laut Dritten immer wieder Thema. So fotografierte Finanzminister Löger am 14. Jänner vermutlich während eines Meetings mit Kurz und Blümel einen Sideletter ab – das ist eine der wenigen Dateien, die Löger auf seinem Smartphone später gelöscht haben soll. Am Abend desselben Tages informierte Löger dann Schmid darüber, dass Kurz "sich auf das Regierungspapier" beziehe und "Abgehen davon kritisiert!!!". Am 2. April 2019 informierte Strache Schiefer: "Kanzler sagt: Extravereinbarung mit Schmid ist mit ihm nicht besprochen und gilt nicht (…) Irre!!!" Es liegt nahe, dass Kurz also bei seiner Befragung im U-Ausschuss zumindest gewusst haben könnte, was mit einer "Schmid-Schiefer-Vereinbarung" gemeint sei.

Frage: Wie geht es nun weiter?

Antwort: Die WKStA hat im Zuge ihrer Ermittlungen bereits zahlreiche Zeugen und Beschuldigte einvernommen. Kurz bestreitet nach wie vor, absichtlich falsch ausgesagt zu haben – es gilt die Unschuldsvermutung. Die Karten liegen also auf dem Tisch. Der Amtsvermerk liest sich jedenfalls so, als ob ein Strafantrag gegen Kurz in der Sache nicht mehr weit entfernt ist. Dann muss ein unabhängiges Gericht über Schuld oder Unschuld des Altkanzlers entscheiden. (fsc, 4.7.2022)