Gut drei Jahre hat die Wartungspause am Large Hadron Collider (LHC) am europäischen Kernforschungszentrum Cern bei Genf gedauert, nun ist der gigantische Teilchenbeschleuniger aufgerüstet und bereit für neue Entdeckungen. Der LHC startet mit höherer Energie und mehr Teilchenkollisionen in seine dritte Laufzeit. "Es ist ein magischer Moment", sagte Cern-Generaldirektorin Fabiola Gianotti am Dienstagnachmittag Sekunden nach den ersten Kollisionen mit der neuen Höchstenergie von 13,6 Teraelektronenvolt. In den vergangenen Wochen wurde der Beschleuniger Schritt für Schritt hochgefahren. Der denkwürdige Moment kann per Livestream ab 16 Uhr mit verfolgt werden.

Im Livestream kann die erste Datennahme bei der neuen Rekordenergie von 13,6 Teraelektronenvolt mitverfolgt werden. Video: Cern.
CERN

Am LHC werden Protonen mit hoher Energie zur Kollision gebracht. Es handelt sich dabei um die positiv geladenen Teilchen im Atomkern, die ihrerseits aus sogenannten Up- und Down-Quarks zusammengesetzt sind. In den zahlreichen Bruchstücken der aufeinanderprallenden Teilchen verbergen sich mitunter exotische neue Teilchen. Erst diese Woche jährte sich zum zehnten Mal die Entdeckung des rätselhaften Higgs-Bosons, das als letzter Puzzlestein im Standardmodell der Teilchenphysik gilt.

Mehr Energie, mehr Daten

Es braucht aber sehr viel Energie, um schwere Teilchen zu erzeugen. Daher gilt in der Teilchenphysik: Je höher die Energie der kollidierenden Teilchen, desto spannender das Ergebnis. Nach der Generalüberholung erreicht der LHC in seiner dritten Laufzeit eine neue Rekordenergie von 13,6 Teraelektronenvolt. Der bisherige Rekord lag bei 13. Noch bemerkenswerter ist der Sprung bei der Anzahl der beobachteten Kollisionen: In der dritten Runde werden sich die Daten gegenüber der zweiten Runde sogar verdoppeln.

Diese Upgrades sollen die Teilchenphysikerinnen und Teilchenphysiker in die Lage versetzen, das Higgs-Boson mit nie dagewesener Präzision vermessen zu können. "Das Higgs-Boson ist wie ein Mikroskop, das uns ermöglicht, das Universum mit höchster Präzision erforschen zu können", sagt Cern-Generaldirektorin Gianotti anlässlich des Neustarts. "Das Higgs-Boson könnte uns auch Zugang zu Dunkler Materie verschaffen."

Für die rasche Fortbewegung im unterirdischen Tunnel des LHC sind Fahrräder im Einsatz.
Foto: APA/AFP/VALENTIN FLAURAUD

Rätselhafte Dunkle Materie

Eine der großen Hoffnungen für die Physikerinnen und Physiker besteht darin, der rätselhaften Dunklen Materie, die rund ein Viertel des Energiegehalts des Universums ausmacht, in der nächsten Runde am LHC näherzukommen. Astronomische Messungen haben schon vor längerem ergeben, dass Sterne schneller als erwartet um die Zentren ihrer Galaxien rotieren. Sie sollten daher in das All geschleudert werden.

Diese Beobachtung sorgte bei Astronominnen und Astronomen für Verwunderung, denn immerhin können heute tausende Galaxien beobachtet werden – und keine scheint sich von selbst aufzulösen. Es muss daher mehr Masse vorhanden sein, die mit den jetzigen technischen Mitteln nicht detektierbar ist, daher wurde sie Dunkle Materie genannt. Doch niemand weiß, woraus diese Dunkle Materie besteht. Die Physikerinnen und Physiker am Cern fahnden daher nach schweren Teilchen, die aber nur schwach mit Licht wechselwirken.

Der Teilchenbeschleuniger LHC kommt auf einen Umfang von stolzen 27 Kilometern.
Foto: Reuters/Pierre Albouy

Künstliche Intelligenz und Quantentechnologien

Um den enormen Datenmengen beizukommen, die bei diesem Experiment laufend produziert werden, ist künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen inzwischen unumgänglich. Kürzlich wurden auch Initiativen gestartet, um neue Quantentechnologien für die Teilchenphysik zu nutzen. "Das ist zwar immer noch Science-Fiction", sagt Joachim Mnich, Direktor für Forschung und Datenverarbeitung am Cern. Langfristig könnten aber beispielsweise Quantensensoren dafür eingesetzt werden, Antimaterie zu detektieren.

Das Besondere an der jetzigen Situation in der Teilchenphysik ist, dass nicht eindeutig ist, wonach eigentlich gesucht wird. In der Vergangenheit war der Ansatz, experimentelle Belege für theoretische Vorhersagen zu finden, eine wichtige Motivation – beispielsweise für Supersymmetrie, kurz Susy: Um verschiedene Probleme des Standardmodells der Teilchenphysik zu erklären, wurde bereits vor Jahren postuliert, dass jedes Teilchen des Standardmodells einen schweren Zwilling besitzt. Diese supersymmetrischen Partner könnten für eine Vereinigung dreier der vier Grundkräfte der Physik sorgen. Als der LHC im Jahr 2008 in die erste Runde ging, waren die Hoffnungen groß, Belege für die Supersymmetrie zu finden – bisher verlief diese Suche jedoch erfolglos.

Cern-Generaldirektorin Fabiola Gianotti hofft auf einen Teilchenfund im Zusammenhang mit Dunkler Materie.
Foto: REUTERS/Denis Balibouse

Inzwischen scheint die Suche nach Susy eher von der Agenda gestrichen worden zu sein. "Unser Ziel ist es nicht, nach einer bestimmten Theorie wie Susy zu suchen", sagte Gianotti zum Neustart am LHC. "Mein Traumszenario wäre es, ein Teilchen für Dunkle Materie zu produzieren." (Dorian Schiffer, Tanja Traxler, 5.7.2022)