Inhalte des ballesterer #172 (Juli 2022) – Seit 1. Juli im Zeitschriftenhandel und digital im Austria-Kiosk

Schwerpunkt: EM 2022

VON OLD TRAFFORD NACH WEMBLEY
Alle Spiele, alle Stadien

FOOTBALL, BLOODY HELL
Ein Anstoß zur EM

NACH DEM ÜBERRASCHUNGSCOUP
Österreichs Frauen zwischen 2017 und 2022

"MIT DER EM KOMMT EIN RIESIGES EVENT AUF UNS ZU"
Manuela Zinsberger im Interview

Gruppen A bis D

ENGLAND
Mission Titel

NORDIRLAND
Optimistische Debütantinnen

NORWEGEN
Ada Hegerberg im Interview

DEUTSCHLAND
Alte Favoritinnen, neue Probleme

SCHWEIZ
Zwischen Stillstand und Kontinuität

FRANKREICH
Aus den Schlagzeilen

Cover: Ballesterer

Schwerpunkt: 50+1

WER WÄHLT, SCHAFFT AN
Der Wert der Mitgliedschaft in der Bundesliga

"JEDER CENT SOLL IN DEN FUSSBALL FLIESSEN"
Christian Ebenbauer über Regeln und Regulierung

DIE ANTWORT ZÄHLT
Ein Anstoß zu 50+1 in Deutschland

DAS SYSTEM RED BULL
Erfolgreicher Sonderfall

International

CHINA
Der Staat greift ein

ENGLAND
Abramowitschs Imperium am Ende

ISRAEL
Politische Bewegungen am Platz

USA
Klubs für Neueinsteiger

Cover: Ballesterer

Wäre Taktik Kunst, hätte man die ÖFB-Frauen einst als "Experimentelle Avantgarde" bezeichnen können. Als Irene Fuhrmann im Sommer 2020 das Amt der Teamchefin übernahm, waren es die Spielerinnen von ihrem Vorgänger Dominik Thalhammer gewohnt, ganz wilde Sachen auf den Rasen zu bringen. Einmal eine 3-2-1-4-Formation, dann massive Rochaden der Abwehrkette im Aufbau, am Ende sogar ein WW-System.

Fuhrmann musste nach Thalhammers Abgang zum LASK also auf die Gegebenheiten reagieren. Die Coronabeschränkungen hatten dem Fitnesszustand der Spielerinnen zugesetzt, zudem war wegen der Präventionskonzepte kaum Arbeit am Trainingsplatz möglich. "Darum haben wir aus dem geschöpft, was die Spielerinnen gut können", sagt Fuhrmann. Zusätzlich setzte sie auf Videoanimationen, um Positionierungen und Laufwege ohne physisches Training zu vermitteln. "Das war früher nicht möglich, heute sind die Spielerinnen aber durch ihre Jahre in Deutschland, England und Frankreich – wo sie taktisch sehr gefordert sind – in der Lage, das auch über diesen Weg aufzunehmen und umzusetzen."

Ein wesentlicher Faktor war in der zweiten Post-Lockdown-Saison auch die Belastungssteuerung. Das halbe Team war im Herbst 2021 in der Gruppenphase der Champions League aktiv, hatte also bis zu 28 Pflichtspiele in dreieinhalb Monaten zu absolvieren. Körperliche Regeneration war das Gebot der Stunde.

Volle Werkzeugkiste

Als effektivster Weg, Gegnerinnen zu nerven und damit zu kontrollieren, hat sich das von Thalhammer etablierte Angriffspressing erwiesen. Diesem Zugang ist Fuhrmann treu geblieben. Bis auf Ausnahmefälle lässt sie im 4-3-3 spielen, Adaptierungen gibt es eher im Kleinen. Oft ist es schon die gegnerische Torfrau, die angelaufen und so zu unkontrollierten Abschlägen oder riskanten Querpässen gezwungen wird. Ein wesentlicher Teil dieser Spielweise ist die Absicherung: Hinter der ersten Pressingwelle im Angriffsdrittel – mit Sturmspitze, Flügelstürmerinnen und einem Achter – lauert sofort die zweite Welle mit den Außenverteidigerinnen und der verbleibenden ballnahen Mittelfeldspielerin. Besonders in den WM-Qualifikationsspielen gegen Nordirland klappte das gut. Eine wichtige Erkenntnis, denn Nordirland ist auch bei der EM ein Gruppengegner. Fuhrmann schränkt jedoch ein: "Wir können nicht 95 Minuten nur draufdrücken, das geht athletisch einfach nicht."

Das immer noch sehr starke Leistungsgefälle im Frauenfußball macht es aber notwendig, sich in mehreren Spielanlagen wohlzufühlen. Heillos unterlegene Gegnerinnen bekommt man in den Qualifikationen ebenso vorgesetzt wie etwa England im EM-Eröffnungsspiel. Hier ist defensive Disziplin gefragt. Einen individuell überlegenen Gegner vom eigenen Tor weghalten und im tiefen Block verteidigen, macht vielleicht keinen Spaß, ist aber effektiv. So bezwangen die Österreicherinnen im EM-Viertelfinale 2017 Spanien, so ermauerten sie sich das für das EM-Ticket entscheidende 0:0 gegen Frankreich. Eine starke Defensive wird also auch heuer bei der Endrunde zum Repertoire gehören.

Die präferierte Variante bleibt aber das druckvolle Spiel nach vorne. Besonders die Testspielsiege gegen Rumänien und die Schweiz im Februar 2022 kamen Fuhrmanns Idealvorstellung schon recht nahe. "Was die Konsequenz in der Ausführung, den ausgeübten Druck und das Hochhalten der Konzentration angeht, waren das die besten Spiele in der jüngeren Vergangenheit", sagt sie.

Die Teamchefin überträgt den Spielerinnen Eigenverantwortung im Aufbau, dafür müssen aber alle wissen, wie sie sich in welchem Fall zu verhalten haben. Ob mit abkippender Sechs, ob mit dem ersten Pass ins Zentrum oder auf die Außenbahn, ob die Innenverteidigerinnen selbst bis an die Mittellinie dribbeln: Es gibt viele Werkzeuge in der Kiste, aus der die Spielerinnen wählen können. Sie sind in einem gewissen Rahmen freier und flexibler in der Selbstorganisation, das gilt auch für das Angriffsspiel. "Man sieht, dass sie in der Offensive nicht so viel nachdenken wie früher", sagt Fuhrmann. "Wir erspielen uns zwar mehr Torszenen, schießen daraus aber zu wenig Tore." Das mag auch daran liegen, dass man sich bei aller Spielkontrolle schwer tut, in gute Abschlusspositionen zu kommen.

Offener Pool

Die immer gefinkelteren Varianten der Ära Thalhammer waren möglich, weil das Team jung zusammengekommen war und personell über Jahre weitgehend unverändert auf Erlerntes aufbauen konnte. Das war ein Schlüssel zum Erfolg, machte es aber fast unmöglich, neu zu der Gruppe zu stoßen: Nach Nicole Billa und Katharina Schiechtl im Jahr 2014 schaffte es unter Thalhammer fünf Jahre lang niemand mehr, sich in der Startformation zu etablieren. Erst Julia Hickelsberger, deren Rolle als an der Seitenlinie klebende Sprinterin untypisch unkomplex war, gelang das in den letzten Thalhammer-Spielen – bis zu ihrem Kreuzbandriss 2020.

Fuhrmann legt nun andere Maßstäbe an: So hatten Laura Wienroither und Marie Höbinger aufgrund fehlender Körpergröße und Schnelligkeit beziehungsweise mangelnder Robustheit früher einen schweren Stand, unter Fuhrmann sind beide gesetzt. Auch die kleine Stürmerin Lisa Kolb, die groß gewachsene Defensivallrounderin Celina Degen und die giftige Offensivspielerin Maria Plattner gehören nun zum Spielerinnenpool. Katharina Naschenweng, deren linker Fuß als einer der besten im deutschsprachigen Raum gilt, ist nach langwieriger Knieverletzung wieder fit. Barbara Dunst, zuvor oft gebrachte Wechselspielerin, ist nun Stammkraft.

Während Thalhammer den engsten Kreis aus 14 Spielerinnen in immer neue Rollen steckte, wählt Fuhrmann aus einem größeren Pool aus verschiedenen Typen. Eine fixe Achse aus den Leistungsträgerinnen Zinsberger, Wenninger, Puntigam, Zadrazil, Billa bleibt aber nicht zu ersetzen. Der Zugang von Fuhrmanns Vorgänger war perfekt geeignet, um aus dem Mitläufer Österreich trotz begrenzter personeller Ressourcen einen EM-Halbfinalisten zu formen. Die Teamchefin soll nun den Generationswechsel moderieren und mit einem immer noch nicht besonders großen Pool an Spielerinnen zumindest das Niveau als EM-Teilnehmer halten. Das ist ihr bisher gut gelungen. (Philipp Eitzinger, 5.7.2022)