Labour-Chef Keir Starmer hatte über seine Pläne für den Brexit lange geschwiegen. Nun hat der britische Oppositionschef eine vielbeachtete Rede gehalten.

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In Branchen wie der Gastronomie und im Hotelgewerbe, aber auch im Gesundheitssystem NHS fehlen Hunderttausende von Arbeitskräften. Der Handel mit dem Kontinent geht stetig zurück. Die offizielle Budgetbehörde OBR prognostiziert eine Wachstumseinbuße von vier Prozent: Seit Monaten sind die negativen Brexit-Folgen für Großbritannien unübersehbar. Darauf reagiert jetzt die größte Oppositionspartei: Seine Labour-Party werde am EU-Austritt festhalten, aber anders als die konservative Regierung nach pragmatischen Lösungen suchen, sagte der Parteichef Keir Starmer am Montag in London. Unter Premier Boris Johnson stecke das Land im Schlamassel: "Wir werden die Barrieren beseitigen."

Die Rede vor ausgewähltem Publikum des Thinktanks CER in der irischen Botschaft beendete eine monatelange Periode eingeschüchterten Schweigens. Im Parlament weist Johnson immer wieder darauf hin, dass Starmer unter dessen Vorgänger Jeremy Corbyn Brexit-Sprecher war und sich an Versuchen beteiligte, das Referendumsresultat vom Juni 2016 zu ignorieren. Allerdings hat der Regierungschef, anders als zu Jahresbeginn, zuletzt kaum noch über angebliche Vorteile gesprochen, die dem Land durch den Brexit erwachsen.

Besser ist es jetzt nicht

Ob es sie überhaupt gibt? Sechs Jahre danach sind sich auch viele jener 52 Prozent, die damals für den Austritt stimmten, ihrer Sache keineswegs mehr sicher. Einer kürzlichen Umfrage zufolge sehen nur 17 Prozent der Briten ihre Lebensumstände als verbessert an, seit das Königreich Ende 2020 endgültig Binnenmarkt und Zollunion verließ. Hingegen glauben 45 Prozent, ihr tägliches Leben habe sich verschlechtert.

Das liegt vor allem daran, dass die Tory-Regierung den denkbar härtesten Brexit gewählt hat. Schon fordern einflussreiche konservative Hinterbänkler wie Tobias Ellwood, Chef des Verteidigungsausschusses im Unterhaus, eine Rückkehr in den Binnenmarkt und damit zur Freizügigkeit für EU-Arbeitnehmer. Kommt nicht in Frage, argumentiert hingegen Starmer: "Darüber wieder zu streiten, kurbelt weder die Wirtschaft an noch senkt es die Lebensmittelpreise – wir hätten nur eine neue Spaltung". Damit spielt der Labour-Chef auf die traumatischen Begleiterscheinungen der jahrelangen Brexit-Debatte an, die nicht zuletzt bei den Anhängern der eigenen Partei tiefe Spuren hinterlassen hat. Denn im post-industriellen Norden stimmten viele angestammte Labour-Wähler für den Brexit und liefen 2019 zu Boris Johnsons‘ Konservativen über; hingegen bleibt die überwiegend städtische Parteibasis mit großer Mehrheit pro-europäisch.

"Make Brexit work"

Aus Brüsseler Sicht wäre Starmers Slogan "Make Brexit work" wohl insofern willkommen, als der Labour-Chef zu einem geordneten Verhältnis zurückkehren würde anstatt immer neue Provokationen und Rechtsbrüche zu begehen wie Johnson und seine Außenministerin Elizabeth Truss. Konkret schlägt Labour ein Veterinärabkommen sowie eine Vereinbarung über sogenannte "zuverlässige Händler" (trusted traders) vor, um den Streit über das Nordirland-Protokoll zu entschärfen.

Diese Spezialvereinbarung zum Austrittsabkommen, die Nordirlands Verbleib im Binnenmarkt sichert, will die Londoner Regierung aushebeln. Dafür gebe es "weder eine juristische noch eine politische Rechtfertigung", schrieben am Wochenende die Außen-Ressortschefs von Deutschland und Irland, Annalena Baerbock und Simon Coveney, in einem Artikel für die Sonntagszeitung "Observer".

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Starmer äußerte zudem den Wunsch, Geschäftsleuten und Künstlern sollten jene Kurzbesuche auf dem Kontinent erleichtert werden, die seit dem Brexit hohen bürokratischen Aufwand erfordern. Wie das ohne die Rückkehr zur Freizügigkeit funktionieren soll, ließ der Labour-Chef offen.

Fachleute zeigten sich zunächst skeptisch. Es handele sich um "einen Babyschritt", glaubt Tom Hayes vom Brüsseler Netzwerk Beerg. Ähnlich urteilt der frühere Staatssekretär Denis MacShane: Angesichts des Meinungswandels in der Bevölkerung und vielen Medien laufe seine Partei "der Entwicklung hinterher". All jene, die mittlerweile den EU-Austritt für falsch halten, werde zu anderen Parteien wie den Liberaldemokraten oder Grünen überlaufen, so die Befürchtung des langjährigen Europa-Experten, "weil Labour es nicht schafft zu sagen: Der Brexit ist ein Fehler und schadet Großbritannien." (Sebastian Borger aus London, 4.7.2022)