Premierministerin Magdalena Andersson ließ sich beim Nato-Gipfel in Madrid zum bevorstehenden Beitritt ihres Landes beglückwünschen. Zu Hause ist die Zustimmung allerdings nicht so ungeteilt.

Foto: AP / Bernat Armangue

Es ist ein politischer Tabubruch – und ein solcher ist bekanntlich schwierig. Jahrzehntelang hatten sich Schweden und Finnland stolz als neutral, später als bündnisfrei definiert. Jahrzehntelang war das auch Teil ihres Selbstbildes – von dem man ja auch in Österreich ein Lied zu singen weiß. Nun aber, seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, ist alles anders: Beide Staaten – und, glaubt man Umfragen, vor allem auch ihre Bevölkerung – wollen in die Nato. Und das möglichst schnell, immerhin wirkt die Bedrohung durch den großen Nachbarn zunehmend akut.

Aber es bleibt eben ein Tabubruch – und ist damit nicht ganz so einfach, wie es anfangs schien. Dafür sorgt nicht nur der autoritäre türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit seinen Forderungen an beide Staaten, sondern auch eine Reihe innerer und äußerer Widerstände. Besonders der schwedische Weg in die Allianz bleibt steinig.

Erdoğan blockiert wieder

Zwar soll am Dienstag die Aufnahme Finnlands und Schwedens in die Nato formal beschlossen werden, doch für Konflikte sorgt erneut die Türkei. Vergangene Woche erst hatte diese ihren Blockadekurs verlassen und ein trilaterales Memorandum unterzeichnet, in dem Schweden und Finnland Ankara die volle Unterstützung gegen Bedrohungen der nationalen Sicherheit zusichern. Kaum konnte Stockholm aufatmen, legte Erdoğan nach: Die Staaten hätten sich in Gesprächen verpflichtet, 73 in der Türkei als Terroristen geltende Personen – offenbar vornehmlich Kurden – auszuliefern. Geschehe dies nicht, werde das türkische Parlament das Beitrittsgesuch nicht ratifizieren.

Sie kenne bisher keine solche Namensliste, sagte Schwedens Ministerpräsidentin Magdalena Andersson am Wochenende der Nachrichtenagentur TT. Auch bei Kritikern des Nato-Beitritts sorgt der jüngste türkische Vorstoß wie zuvor schon das Memorandum für Empörung. "Wir knicken vor einem autoritären Regime ein", so Grünen-Sprecherin Märta Stenevi im Fernsehsender SVT. Proteste kommen ebenso von den Linken und aus der sozialdemokratischen Regierungspartei selbst.

Knapp zweieinhalb Monate vor den Parlamentswahlen bekommt die Regierung nun also doch noch, was sie hat vermeiden wollen: eine unbequeme Debatte zum Thema Nato. Zumindest bis zum Einspruch der Türkei war es den Sozialdemokraten gelungen, rasch Fakten zu schaffen und damit Diskussionen auszubremsen – eine "aus demokratischer Sicht beunruhigende" Taktik, wie der Schriftsteller Thomas Gür in der Zeitschrift Axess anmerkt.

Hü und hott

Im Eiltempo hatte man den Wandel vom beinharten Nato-Gegner zum Befürworter der Allianz vollzogen. Noch Anfang März lehnte Andersson die Aufgabe der traditionellen schwedischen Allianzfreiheit ausdrücklich und mit der Begründung ab, dies würde die Lage in Europa destabilisieren – auch als im ebenfalls von Sozialdemokraten regierten Finnland bereits sehr deutlich der Diskussionsprozess zu einem Beitritt laut geworden war.

Keine drei Monate später, nach einem entsprechenden Beschluss des sozialdemokratischen Parteitags, unterschrieb Außenministerin Ann Linde das Beitrittsgesuch. Wie schon 2016 beim Wechsel von Milde zu Strenge in der Flüchtlingskrise folgte die schwedische Regierungspartei Umfragen im Volk.

Entsprechend einem oft ironisch zitierten Grundsatz, in den schwedischen Debatten dürfe es jeweils nur eine Meinung geben, erhielten Nato-Kritiker in der öffentlichen Darstellung seit dem Umschwenken der Regierungspartei vergleichsweise wenig Raum. Tatsächlich sind sie aber auch einfach wenig organisiert, zumal die Parteien aus der bürgerlich-rechten Reichshälfte bereits seit Jahren einen Beitritt wollen. "Schweden gehörte schon vor Putins Invasion in die Nato, aber jetzt ist ein Außenvorbleiben unmöglich geworden", gab das liberale "Dagens Nyheter", renommierteste Tageszeitung und seit Jahren engagierter Nato-Befürworter, Mitte Mai den Ton vor. "Die Medien, nicht zuletzt die öffentlich-rechtlichen, geben Nato-Befürwortern weitaus mehr Platz als Kritikern", bemängelte Malin Nilsson von der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit. Für traditionelle schwedische Werte wie Frieden und Abrüstung einzustehen, sagte Nilsson der Zeitschrift "Dagens Arena", sei "plötzlich provokant geworden".

Nur Gerichte entscheiden

Während linksgerichtete Kommentatoren befürchten, ein Beitritt könne das Image des friedliebenden Schweden beschädigen, freut sich der liberale Expressen, der Staat werde dann sein "ständiges Lavieren zwischen Ost und West" aufgeben und sich von seinem "aufgeblasenen Selbstbild" verabschieden.

Zunächst aber müssen sich Stockholm und auch Helsinki den jüngsten Attacken aus Ankara stellen. Von den Wünschen nach Abschiebungen ist wiederum besonders Schweden betroffen. Über sie aber entscheiden allein schwedische Gerichte, betont die Regierung; schon kurz nach der Unterzeichnung des Memorandums mit der Türkei hatte die Premierministerin im Sender TV4 erklärt, wer "nicht terroristisch aktiv" sei, habe "nichts zu befürchten".

Kritiker sehen das anders. Am Montag hat Amineh Kakabaveh, unabhängige Parlamentarierin kurdisch-iranischer Abstammung, Außenministerin Linde beim parlamentarischen Verfassungsausschuss angezeigt. (Anne Rentzsch, Manuel Escher, 5.7.2022)