Oberhalb des Weges zur 3343 Meter hohen Marmolata löste sich auf einer Front von etwa 200 Meter Länge, 80 Meter Breite und 60 Meter Höhe ein riesiger Eisblock vom Gletscher und riss mehrere Seilschaften mit sich in die Tiefe.

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Der Klimawandel macht den Bergen zu schaffen, nirgendwo steigt die Durchschnittstemperatur so schnell wie im alpinen Gelände. Für die Gletscher ist das eine schlechte Nachricht, sie schmelzen in Rekordzeit. Zu den langfristigen Folgen kommen neue kurzfristige Risiken, die auch Menschen zum Verhängnis werden können. Der tragische Gletscherabbruch auf der Marmolata in den Dolomiten am vergangenen Wochenende zeigt, wie schnell Geländeformationen, die über Jahrtausende stabil waren, plötzlich kollabieren.

"Im Abbruchbereich des Gletschers auf der Marmolata gab es eine Wölbung, da sind Dehnungsrisse eigentlich ganz normal", sagt Barbara Schneider, die an der Universität Innsbruck zu numerischer und experimenteller Bodenmechanik forscht. Durch die hohen Temperaturen sei mehr Wasser im System gewesen und der Wasserdruck in den Spalten habe zugenommen. "Der Hauptauslösefaktor war also meiner Meinung nach wirklich das warme Wetter", sagt die Forscherin. Es handle sich eindeutig um ein Zeichen des Klimawandels. "Es ist dort derzeit so warm wie nie zuvor. Dazu gab es wenig Niederschlag. Auch die anderen Gletscher leiden, es kommt zu starkem Eisverlust", sagt Schneider.

Zunehmende Risiken

Zur Möglichkeit einer Vorhersage solcher Ereignisse zeigt sich Schneider skeptisch: "Einzelfälle lassen sich nur vorhersagen, wenn es bereits ein Verdachtsmoment gibt. Dann lassen sich Verformungen beobachten." Ohne Anfangsverdacht sei man machtlos.

Das Kollabieren von Gletscherformationen ist nicht das einzige Risiko, das in den Alpen zunimmt. Auch Permafrostböden tauen zunehmend auf. Das Phänomen gibt es etwa bei Gletschermoränen. "Dabei handelt es sich um ein Eis-Boden-Gemisch, und man kann sich vorstellen, dass das gefrorene Wasser für die Stabilität verantwortlich ist. Wenn das Eis im System taut, brechen diese Hänge ab", sagt Schneider.

Bei aller Tragik des aktuellen Ereignisses seien Beobachtungen größerer Gletscherabbrüche für die Wissenschaft relevant, weil viele neue Daten gesammelt werden können, die helfen sollen, künftige Vorhersagen zu verbessern.

Die Eis- und Felsmassen krachten mit rund 300 Stundenkilometern ins Tal und stoppten erst nach etwa 1500 Metern knapp oberhalb des Stausees am Fedaia-Pass.
Illustr.: STANDARD

Immer mehr Hangrutschungen

Wie solche Extremereignisse simuliert werden können, ist aktuell Gegenstand von Forschungen. Lawinen aus Geröll, Eis und Wasser sind schwer am Computer zu modellieren, weil es sich eigentlich um Gemische aus zwei Komponenten handelt. Das ist rechenintensiv und erst seit ein paar Jahren möglich. Forschungsgruppen wie jene um den Geografen Martin Mergili an der Universität Graz versuchen, internationale Katastrophen am Computer zu reproduzieren, neben Eisrutschungen auch Muren. Es handle sich um komplexe Gemische aus feinerem und gröberem Material.

Zwar gibt es kommerziell verfügbare Software für solche Simulationen, doch sie können nur eine Phase berücksichtigen – sie behandeln also das Gemisch als eine einzige Flüssigkeit. Mergilis Gruppe kann beide Phasen simulieren und erzielt bessere Ergebnisse. Allerdings bleibt die Qualität der Vorhersagen stark abhängig von den Ausgangsdaten.

Die Häufigkeit solcher Ereignisse wird zunehmen, wie aktuelle Forschungen zeigen. Bei Erreichen des 1,5-Grad-Ziels sollen es zehn Prozent mehr Hangrutschungen sein, bei unkontrollierter Erwärmung wird mit 45 Prozent mehr Rutschungen gerechnet.

Schuld ist der schneearme Winter

Auch erfahrene Alpinistinnen und Alpinisten sind nicht überrascht von solchen Vorfällen. "Mit Eissturzereignissen aufgrund der Klimaerwärmung muss mit Sicherheit gehäuft gerechnet werden", sagt Michael Larcher vom Österreichischen Alpenverein. "Man erlebt, wie sich die Gletscher vor allem in den unteren Bereichen auflösen. Sie werden auch steiler, weil statisch die Verhältnisse ungünstiger werden."

"Es hängen riesige Eisschollen nur noch an den Rändern am restlichen Gletscher dran." Vor allem der schneearme Spätwinter und die hohen Temperaturen führen dazu, dass solche Ereignisse häufiger werden. Manche Routen können heute kaum noch begangen werden, weil die Gefährdung durch Stein- und Eisschlag so zugenommen hat.

"Das Abbrechen von Eis bei Gletschern gehört zu den Alpen, das hat es immer gegeben", sagt Larcher. Mit dem Klimawandel gebe es aber Effekte, die die Stabilität herabsetzten, auch mit Felssturzereignissen sei vermehrt zu rechnen. "Wann sie sich lösen, ist auch von der Tageszeit unabhängig. Tipps wie früh aufbrechen oder die Mittagszeit vermeiden sind wertlose Empfehlungen. Diese Kräfte entfalten sich unabhängig von kurzen Temperaturschwankungen." Die häufigsten Unfallursachen seien außerdem Absturz oder Spaltensturz. Die Alpen sind also in Bewegung, und das mehr als je zuvor. (Reinhard Kleindl, 5.7.2022)