Wenn es nicht gerade um die äußerste Akutversorgung geht, sind die Türen für junge kinderpsychiatrische Patientinnen und Patienten oft lange geschlossen, obwohl diese einen stationären Platz im Spital (im Bild die Abteilung am AKH Wien) brauchen.

Foto: Regine Hendrich

Eine 15-Jährige wird nach einem Suizidversuch an einer Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie in einem Spital in Österreich stationär aufgenommen. Nach zwei Tagen wird sie wieder entlassen. Man will sie für eine Behandlung länger stationär aufnehmen, da sie aber kein Akutfall mehr ist, wird sie auf eine Warteliste gesetzt. Es kann sechs bis neun Monate dauern, bis sie drankommt – solange soll sie beim niedergelassenen Facharzt immer wieder zur Kontrolle gehen. Doch auch dort heißt es warten auf einen Ersttermin auf Kasse, die Zeitspanne beträgt drei Monate.

Ein Zentrum für Essstörungen wird angefragt: keine neuen Aufnahmen. Zweimal wird Julia wieder wegen akuter Krisen kurz stationär aufgenommen. Nach fünf Monaten hat sie endlich ihren stationären Spitalsaufenthalt mit Therapien. Nun heißt es, sie sollte danach womöglich in eine therapeutische WG ziehen. Aber auch auf so einen Platz müsste sie mehrere Monate warten.

Unter Druck

Dieses hier kurz zusammengefasste "Beispiel aus der Praxis" wurde am Dienstag bei einer Pressekonferenz der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (ÖGKJP) skizziert von Judith Noske, die die Kinder- und Jugendpsychiatrie am Landesklinikum Baden-Mödling, Standort Hinterbrühl, leitet. Die Geschichte von Julia steht stellvertretend für viele andere Kinder und Jugendlichen in Krisen in Österreich. Und sie zeigt plakativ, was es bedeutet, wenn beim Thema Kinder- und Jugendpsychiatrie oft von Mangel in den verschiedenen Bereichen gesprochen wird, der auch bei diesem Pressetermin das zentrale Thema ist. Dass es nämlich sowohl in den Spitälern als auch im ambulanten und im niedergelassenen Bereich an Versorgungskapazitäten fehlt. Wie berichtet ist die Versorgungslage in Wien und da insbesondere in der Klinik Hietzing sehr prekär – aber in ganz Österreich sind Abteilungen und Einrichtungen stark unter Druck.

Warten heißt Verschlechterung

Dieser Mangel an Plätzen oder Betten heißt für die jungen Menschen in Krisen ganz oft: Warten. Ihr Zustand verschlechtert sich in dieser Zeit dann weiter. Damit erhöht sich das Risiko, dass das Leiden chronisch wird. Laut Kathrin Sevecke, Präsidentin der ÖGKJP, können psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter "nicht selten mit einer lebenslangen Teilhabebeeinträchtigung einhergehen". All diese Probleme habe die Corona-Pandemie noch verstärkt.

Sevecke ist an der Uniklinik Innsbruck tätig sowie Primaria an der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie Hall in Tirol. Dort erhob sie, dass die Zahl der Akutaufnahmen im zweiten Pandemiejahr (also 2021) im Vergleich zu 2019 um 40 Prozent gestiegen ist. Zugleich stehe – wie schon vor der Pandemie – nur rund die Hälfte der eigentlich benötigten Bettenzahl bereit.

Hohe Wiederaufnahmerate

"Auf Basis einer aktuellen Abfrage der ÖGKJP im Juni 2022 gibt es in Österreich 401 vollstationäre und 138 Tagklinikplätze für 1,73 Millionen Kinder und Jugendliche unter 19 Jahren. Im Vergleich dazu stellt Deutschland 6.699 vollstationäre Betten und 3.895 Tagesklinikbetten zur Verfügung. Auf Österreich umgelegt würde das eine Anzahl von 700 vollstationären Betten und 410 Tagesklinikbetten bedeuten", rechnet Sevecke vor.

Die Verweildauer der jungen Patientinnen und Patienten in den Spitälern ist nach Seveckes Erhebungen gesunken. Das könnte eine gute Nachricht sein, dem sei aber nicht so: "Nur wenigen Patientinnen und Patienten können längere Therapieaufenthalte ermöglicht werden. Dadurch kommt es zu einer relativ hohen Wiederaufnahmerate." Noske ergänzt: "Dem hohen Aufnahmedruck von außen muss mit einem hohen Entlassungsdruck von innen begegnet werden. Krisenaufnahmen dauern im Durchschnitt nur mehr ein bis drei Tage."

Patientenstau in den Praxen

In den Arztpraxen ist die Situation österreichweit ebenfalls sehr angespannt und überlastet: Statt 112 gibt es derzeit österreichweit 37,5 Kassenstellen. "Es stauen sich nun auch noch mehr schwerkranke junge Patientinnen und Patienten in die ambulante Versorgung außerhalb der Spitäler zurück", berichtet Helmut Krönke, Kinder- und Jugendpsychiater in Wien und Bundesfachgruppen-Obmann in der Österreichischen Ärztekammer. Ein Lösungsansatz könnte laut Krönke die Förderung von Kinder-und-Jugendpsychiatrie-Lehrpraxen in ganz Österreich sein.

Sevecke fordert "dringlich" Maßnahmen in allen Bereichen. Es brauche in der Kinderpsychiatrie doppelt so viel Personal in allen Berufsgruppen, flächendeckend Psychotherapie auf Krankenschein für Kinder und Jugendliche und eine ministeriumsübergreifende Koordinatorin oder einen Koordinator für Mental Health auf höchster Ebene, da die Materie eigentlich drei Ministerien betreffe – neben dem Gesundheits- und Sozialministerium auch das Familien- sowie das Justizministerium. (Gudrun Springer, 5.7.2022)