Jan Nepomnjaschtschi blieb beim Kandidatenturnier mit fünf Siegen und neun Remis als einziger Teilnehmer ungeschlagen.

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Ding Liren sicherte sich den zweiten Platz.

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Jetzt hat er es allen gezeigt. Viel Häme hatte es gegeben, als Jan Nepomnjaschtschi vergangenen Dezember im WM-Match von Dubai gegen Weltmeister Magnus Carlsen untergegangen war. Von seiner mentalen Stärke hatte der Russe damals wiederholt gesprochen – nur um in der zweiten Hälfte des Wettkampfs eine peinliche Niederlage nach der anderen einstecken zu müssen, bis es am Ende 7,5:3,5 gegen ihn stand.

Als Vize-Weltmeister war Nepo, wie er allgemein genannt wird, immerhin für das nächste Kandidatenturnier vorqualifiziert. Für einen erneuten Sieg bei diesem wichtigsten Turnier des Jahres hatten ihn aber nur wenige auf dem Zettel. Konnte Nepo nach der Abfuhr von Dubai überhaupt schon wieder voll motiviert sein, sich neuerlich für einen WM-Zweikampf zu qualifizieren?

Er konnte und er war. Mit fünf Siegen und neun Remisen blieb der Russe als einziger Teilnehmer ungeschlagen und erzielte das Fabelergebnis von 9,5 Punkten aus 14 langen Runden. Niemand hat das Turnier seit Wiedereinführung des Rundenformats für Kandidatenturniere im Jahr 2013 so hoch gewonnen.

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Wie aber konnte Nepomnjaschtschi in Madrid so dominieren? Wer eine Antwort sucht, wird nicht an der enttäuschenden Leistung von Nepos Konkurrenten vorbeikommen. Während der Russe bald einsame Kreise an der Spitze zog und hier und da fast mühelos wirkende Siege einfuhr, nahmen sich seine Verfolger immer wieder selbst den Wind aus den Segeln.

Dreimal im Turnier entschied sich Nepo für kräftesparende Kurzremisen mit den weißen Steinen – alle drei Mal strauchelte parallel dazu der gerade Zweitplatzierte ob übertrieben riskanten Spiels. Die Youngsters Alireza Firouzja und Richárd Rapport sprangen den Führenden gleich selbst so ungestüm an, dass Nepomnjaschtschi kaum anderes übrigblieb, als gegen sie mit Schwarz spielend voll zu punkten.

Nur Fabiano Caruana, vor dem Turnier als einer der Favoriten gehandelt, schien Nepos Tempo eine Zeitlang mitgehen zu können. Zur Halbzeit notierte der US-Amerikaner bei 5 aus 7 und damit nur einen halben Punkt hinter dem Russen. In der zweiten Turnierhälfte erlitt der Vizeweltmeister von 2018 mit 1,5 aus 7 jedoch einen für sein Niveau uncharakteristischen Einbruch und fand sich am Schluss nur auf Platz fünf wieder.

Auch Schach-Streamer Hikaru Nakamura ging am Ende merklich der Saft aus. Dabei lag der zweite Amerikaner im Feld vor der Schlussrunde noch auf Platz zwei: normalerweise der undankbarste Rang bei einem Kandidatenturnier, diesmal aber potenziell ausreichend für ein WM-Ticket, weil Weltmeister Carlsen öffentlich mit dem Gedanken gespielt hatte, seinen Titel kein weiteres Mal mehr zu verteidigen.

Alles, was Nakamura brauchte, war ein Schwarzremis gegen Ding Liren in Runde 14. Allein, es sollte nicht sein: Naka ging fast ohne Widerstand zu leisten unter, was dem Chinesen Ding, der nach schwachem Start lange bereits abgeschrieben schien, mit 8 aus 14 noch den Sprung auf Platz zwei ermöglichte.

Ungewisse Zukunft

Am vergangenen Sonntag soll sich Weltmeister Magnus Carlsen dem Vernehmen nach zu einer Konsultation mit Offiziellen des Weltschachbundes getroffen haben, bei der über mögliche Änderungen des WM-Formats gesprochen wurde. Ein Hinweis darauf, dass der Weltmeister seinen angedrohten Rückzug aus dem Weltmeisterschaftszyklus nur als Pfand benützt, um ihm genehme Modifikationen der Regularien durchzudrücken?

Klar ist vorerst nur: Will Magnus Carlsen auch 2023 Schachweltmeister bleiben, dann muss er seinen Titel ein weiteres Mal gegen Jan Nepomnjaschtschi verteidigen, der sich das Recht darauf in Madrid mehr als redlich verdient hat. Hat Carlsen dagegen keine Lust mehr auf einen weiteren kräftezehrenden Zweikampf, dann spielen im Frühjahr 2023 mit Nepo und Ding Liren ein Russe und ein Chinese um den höchsten Titel im Schach. Sportlich würde der der WM-Titel zumindest vorübergehend klar an Wert verlieren, wenn der mit 2864 Elo-Punkten und großem Abstand auf Platz eins der Weltrangliste liegende Carlsen nicht mehr antritt.

Laut Recherchen der Plattform chess.com soll FIDE-Präsident Arkadi Dworkowitsch den Champion ersucht haben, bis 20. Juli eine Entscheidung über seine Zukunft zu treffen. Sofern der Norweger seinen inneren Schweinehund nicht doch noch einmal überwindet, könnte die Ära des Schachweltmeisters Magnus Carlsen also bereits in wenigen Wochen zu Ende gehen. (Anatol Vitouch, 5.7.2022)