Es regnet im Herzen der Dürre. Erst nieselt es nur, dann folgen Schauer, bis sich die Krater in Baidoas Hauptstraße in Teiche verwandelt haben. Ziegen suchen Schutz an den Mauern baufälliger Häuser, die dreirädrigen Tuk-Tuks drohen im Schlamm zu versinken. In einem Flüchtlingscamp am Rand der somalischen Provinzstadt legt Siid Noor Anen beim Bau seines aus Ruten und Plastikplanen errichteten Dom-Zelts noch einen Zahn zu, damit er heute Nacht etwas über dem Kopf hat. Da hört der Regen allerdings schon wieder auf.

Siid kam gestern mit seinem Sohn und zwei Töchtern aus dem dreißig Kilometer entfernten Dorf Ufurow hier an. Sie mussten ihre Heimat des Nachts in aller Heimlichkeit verlassen, weil die Al-Shabab-Milizionäre, die Ufurow kontrollieren, niemanden gehen lassen wollen. Die islamischen Extremisten sind auf die Dorfbewohner als Ernährer angewiesen: Mukhtar musste ihnen immer mal wieder eine seiner einst 13 Kühe als "Steuer" bezahlen – die übriggebliebenen Rinder sind inzwischen verhungert. Auch seine Frau starb vor zwei Wochen: Hätte sie sich nur nicht bloß um die Familie, sondern auch um sich selbst gekümmert, klagt der 50-jährige Farmer. Seine drei Kinder sind in die Stadt gegangen, um etwas Essbares zu erbetteln.

Der Hunger treibt immer mehr Somalier aus ihren Dörfern in Flüchtlingscamps.
Foto: AP Photo/Farah Abdi Warsameh

Regen kommt zu spät

Im Flüchtlingslager Bulo Isak leben gegenwärtig 147 Familien, heute kamen schon wieder zwölf neue hinzu – und es ist noch nicht einmal Mittag. Baidoa ist mit Flüchtlingscamps gespickt: Die igluförmigen Zelte schießen wie Pilzkolonien aus den brachliegenden Flächen der Stadt. Meist sind die Bewohner der Camps zu Fuß oder mit dem Eselskarren aus allen Teilen der Bay-Region nach Baidao gekommen: Mit ihren fruchtbaren Böden galt sie als Somalias Kornkammer. Nachdem inzwischen vier Regenzeiten in Folge ausgefallen sind, wächst in der Bay-Region außer Dornbüschen inzwischen nichts mehr: Daran werden auch die derzeitigen Schauer nicht viel ändern – sie kommen zwei Monate zu spät. Weil es zu Beginn der Regenzeit keine Niederschläge gab, brachten die Farmer auch keine Saat aus – abgesehen davon, dass keiner von ihnen nach der anderthalbjährigen Dürre noch über Saatgut verfügte. Falls überhaupt, setze der Regen immer unberechenbarer ein, sagt Siid: Niemand wisse mehr, wann er die Saat ausbringen soll. "Als ob ein Fluch über uns gekommen wäre."

Immer wieder Dürre

Somalia ist Dürren gewohnt. Die letzte war vor fünf, eine verheerendere vor elf, eine "historische" vor 38 Jahren. "Aber so schlimm wie jetzt war es noch nie", sagt eine 80-jährige Greisin, während sie mit ihrem Stock einen Kreis neben Siids Baustelle in den Boden zieht – der Grundriss ihres künftigen Zuhauses. Fällt auch die Regenzeit im September aus – was Wetterforscher für wahrscheinlich halten –, wird diese Dürre als die längste in die Geschichte des Landes eingehen. Schon jetzt sind acht Millionen Somalierinnen und Somalier auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen, melden die Vereinten Nationen: fast die Hälfte der Bevölkerung. Wann auch offiziell eine Hungersnot ausgerufen werden muss, sei nur eine Frage der Zeit, prognostizieren Hilfsorganisationen: Der letzten, 2011, fielen mehr als 260.000 Menschen zum Opfer. "Damals haben wir alle geschworen, dass so etwas nie wieder vorkommen soll", sagt Claire Sanford, Vizedirektorin bei Save the Children: "Jetzt droht es sogar noch schlimmer zu werden." Schon heute stirbt in Baidoa fast täglich ein Kind an den Folgen von Unterernährung: Die Welt ist unterdessen mit anderem beschäftigt.

Keine Hilfe

Auch Hawa Isaq Abubakar hat schon eines ihrer fünf Kinder verloren: Ihren zweitjüngsten Sohn musste sie im Alter von 18 Monaten in ihrem Dorf begraben. "Es gibt nichts Schlimmeres, als ein Kind zu verlieren", sagt die 35-jährige Mutter. Ihr Mann verließ inzwischen die Familie: Was aus ihm wurde, weiß sie nicht. Hawa machte sich mit ihren Kindern zu Fuß auf den 90 Kilometer langen Weg von ihrem Dorf Hafete nach Baidoa: Dort würden ihr ausländische Organisationen helfen, sagte man ihr. Seit 19 Tagen zwängt sich die Mutter Abend für Abend mit ihren vier Kindern ins Zelt neben Siids Rohbau: Doch geholfen hat ihr bislang noch niemand. Außer der Nachbarin, die ihr hin und wieder den Rest ihres schleimigen Okra-Gemüses überlässt. Tagsüber stromert Hawa durch die Büsche, um Brennholz zu sammeln, das sie für einen Dollar auf dem Markt verkauft. Davon kann sie sich ein Kilo Maismehl leisten. Zumindest heute noch. Morgen könnte es schon wieder teurer sein. Die Preise explodieren.

Bürgerkrieg

Ein Liter Speiseöl kostet in Baidoa heute doppelt so viel wie vor einem Jahr. Für die Inflation wird der Ukraine-Krieg mit seiner weltweiten Verknappung von Sonnenblumenöl und Weizen verantwortlich gemacht. Doch der ferne Krieg mit den hautnahen Folgen ist nur die Spitze einer ganzen Lawine an Krisen, die sich über die Bay-Region wälzt. Vor zwei Jahren fraßen hier riesige Heuschreckenschwärme alles auf, was grün war. Anschließend kam die Dürre – und dann die Corona-Pandemie. Und das alles, während in Somalia seit anderthalb Jahrzehnten ein Bürgerkrieg zwischen den Extremisten und einer schwächlichen Zentralregierung tobt: Al-Schabab (arabisch: die Jungs) kontrollieren einen Großteil des Hinterlands, die Regierung vor allem die Städte. Was nicht heißt, dass man sich dort sicher fühlen könnte: In Mogadischu kommt es zu durchschnittlich dreißig Anschlägen im Monat.

Das macht den ausländischen Hilfsorganisationen die Arbeit schwer. Die "Jungs" nehmen Menschen mit bleichen Gesichtern als wandelnde Geldautomaten wahr. Aus Angst vor Entführungen müssen die Helfer den Weg von einer Stadt zur anderen im Flugzeug zurücklegen, den Weg vom Flugplatz zum Hotel im gepanzerten Geländewagen. Reporter haben an einem Ort nur eine Stunde Zeit, um mit den Menschen zu reden: Weil sich ihre Gegenwart schnell herumspricht, müssen die Berichterstatter ständig ihren Standort wechseln. Das ist, wie von einem schwankenden Boot aus Schmetterlinge zu fangen.

Unterernährung

Um neun Uhr morgens haben sich in einer von Save the Children geführten Klinik in Baidoa schon über fünfzig Mütter mit ihren Kindern eingefunden. Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass die meisten der Knirpse unterernährt sind: Ihre Haare färben sich blond, ihre Bäuche sind aufgebläht, an den Knöcheln bilden sich Hunger-Ödeme.

Abubakir Ali Ukas ist 14 Monate alt und sechs Kilogramm schwer – fast die Hälfte des Gewichts, das er in diesem Alter auf die Waage bringen sollte. Ein Gesundheitshelfer misst den Umfang seines Oberarms: Das Maßband zeigt 10,5 Zentimeter im dunkelroten Bereich. Der Junge nehme seit mehreren Tagen keine feste Nahrung mehr zu sich, sagt seine Mutter Shakira: Er sauge höchstens an ihrer Brust, doch aus dem verrunzelten Beutelchen kommt nichts mehr heraus. Shakira lebt schon seit einem Jahr im Flüchtlingscamp: Die 35-Jährige hatte einst acht Kinder, jetzt sind es nur noch fünf. Ihr zweitjüngster Sohn starb neben ihr im Zelt. Er war zwei Jahre alt.

Geld fehlt

Eine Zeitlang habe sie von einer Hilfsorganisation monatlich sechzig Dollar bekommen, erzählt Shakira. Das hörte irgendwann auf: Weil kein Geld mehr vorhanden sei, sagte man ihr. Seitdem sammelt Shakira entweder Brennholz oder wäscht für jemanden die Wäsche: Mit dem Ein-Dollar-Tageslohn muss sie ihre sechsköpfige Familie versorgen. Unterdessen liegt der kleine Abubakir täglich bis zu sieben Stunden lang von seinem achtjährigen Bruder beaufsichtigt im Zelt und wartet, bis die Mutter heimkehrt.

Die internationale Hilfsaktion in Somalia ist heillos unterfinanziert. Von den 1,5 Milliarden Dollar, die die Vereinten Nationen angefordert haben, sind bislang weniger als 500 Millionen eingegangen. Vor fünf Jahren, als eine Hungersnot vermieden werden konnte, standen Save the Children für Somalia im ersten Halbjahr noch 110 Millionen Dollar zur Verfügung, mit denen 1,4 Millionen Kinder erreicht wurden, rechnet Adan Farah Mohumed, Berater der Hilfsorganisation in Mogadischu, vor. Dagegen waren es in der ersten Hälfte dieses Jahres nur 30 Millionen Dollar, womit gerade einmal 400.000 Kindern geholfen werden kann. In dieser Kalkulation sei nicht einmal eingerechnet, dass die Hilfe wegen des Ukraine-Kriegs immer teurer werde, fügt Abdinasir Abdi Arush, Minister für Humanitäre Angelegenheiten in der Südwestprovinz, hinzu: "Auf diese Weise wird sich eine Hungersnot wohl nicht vermeiden lassen."

immer mehr Kinder eingeliefert

Laila Hassan Rowle sitzt auf einem von zwölf Betten in einem knapp zwanzig Quadratmeter großen Raum des "Stabilisierungszentrums" von Baido – auf ihrem Arm der zweijährige Mukhtar, hinter ihr im Bett liegt die 40 Tage alte Bisharo. Als die 17-jährige Mutter vor drei Tagen hier ankam, war Mukhtar bewusstlos: Noch immer öffnet er seine Augen nicht – als ob er noch zögere, ins Leben zurückzukehren. Der Körper des Jungen ist von einem Ausschlag überzogen, eine der zahllosen Folgen von Mangelernährung. Mukhtar trinke nicht einmal mehr von ihrer Brust, sagt seine Mutter: Obwohl sie wegen der kleinen Bisharo noch Milch produziere. Ob Mukhtar durchkommen wird, werde sich erst in den nächsten Tagen entscheiden, sagt Abdul Fakar Ibrahim, Chef der ebenfalls von Save the Children betriebenen Stabilisierungsstation.

Am Eingang der Klinik ist eine Tafel mit nüchternen Zahlen angebracht. Danach wurden im April 232 Kinder eingeliefert, im Mai waren es schon 398, im Juni 471. Davon starben im April vier Kinder, im Mai schon acht, im Juni 18. "Es wird schlimmer und schlimmer", sagt Abdul: "Wenn nicht bald etwas passiert, wird es zu einer Katastrophe kommen." Der Chef der Notstation stellt sich schon darauf ein: Neben der Klinik ließ er drei Zelte errichten, um die Gesamtzahl der Patienten von derzeit 150 auf 200 steigern zu können. Täglich kämen rund dreißig neue hinzu, sagt Abdul: "Den meisten können wir helfen."

Todesstoß für Landwirtschaft

Somalia werde durch die Dürre von Grund auf verändert, fährt der Stationschef fort. Derzeit würden auch die letzten nomadischen Viehhirten ihr Wanderleben aufgeben; außerdem kämen Zigtausende von Kleinfarmern in die Städte geströmt, weil sie auf dem Land nicht Überleben können. Dass sie jemals wieder zurückkehren, bezweifelt Abdul: "Unserer Landwirtschaft wird das den Todesstoß verpassen."

Fatima Abdi Muhamed ist schon zum zweiten Mal auf der Stabilisierungsstation: Ihr erstes Kind starb hier vor anderthalb Jahren. Trotzdem ist sie zuversichtlich, dass es der 18 Monate junge Ali schafft, der ausgemergelt auf ihrer Hüfte kauert. Er huste schon nicht mehr, und sein Durchfall sei auch vorbei. Nur der Ausschlag ist noch da – und die Hoffnung, dass es irgendwann besser wird. Doch an die Zukunft wage sie derzeit gar nicht zu denken, sagt Fatima schwach: "Erst einmal geht es allein ums Überleben." (Johannes Dieterich, 6.7.2022)