Der Schriftsteller und emeritierte Universitätsprofessor Josef Haslinger.

Heribert Corn

Der erste offene Brief deutschsprachiger Intellektueller in Sachen Ukraine-Krieg ließ Ende April die Wogen hochgehen. Von Alice Schwarzer und Peter Weibel initiiert, wurde die Wortmeldung vor allem hinsichtlich der Forderung kritisiert, Deutschland solle keine schweren Waffen an die Ukraine liefern. Den Unterzeichnenden wurde naiver Pazifismus vorgeworfen. Es kam zu einem Gegenbrief, u. a. von Daniel Kehlmann und Eva Menasse unterfertigt, in dem Waffenlieferungen als Notwendigkeit verteidigt wurden.

Nun erschien in der Wochenzeitung Die Zeit ein erneuter Appell: Unter anderen fordern Juli Zeh, Richard David Precht oder der österreichische Schriftsteller Josef Haslinger darin konzentrierte Bemühungen für einen Waffenstillstand, einen Verhandlungsfrieden und einen Kompromiss mit Wladimir Putin. Haslinger, nach dem Rücktritt Deniz Yücels seit kurzem auch Interimspräsident der deutschen Schriftstellervereinigung Pen-Zentrum, erklärte dem STANDARD per E-Mail seine Beweggründe.

STANDARD: Sie haben die Kontroverse um die beiden Intellektuellenbriefe verfolgt. Wer hat bislang mehr Recht behalten?

Haslinger: Das weiß ich nicht. Keine der beiden Gruppen, so sehe ich es, will die Ukraine im Stich lassen. Es geht doch längst nicht mehr nur um die Frage der Waffenlieferungen an ein überfallenes Land, sondern es geht mittlerweile auch darum, welchen Schaden die Fortsetzung des Krieges der Ukraine und letztlich der ganzen Welt zufügt.

STANDARD: Der jetzt in der "Zeit" veröffentlichte dritte Intellektuellen-Brief liest sich wie eine ausgewogenere Version des ersten. Warum haben Sie nun mitunterschrieben?

Haslinger: Weil ich nicht zuschauen will, wie sich in einer europäischen Region ein Krieg festsetzt, bei dem auf absehbare Zeit keine Seite nachgeben wird. Dieser Konflikt muss in irgendeiner Weise eingefangen werden, bevor das von Russland besetzte Gebiet, um das es jetzt geht, von beiden Seiten bis zur Unbewohnbarkeit zerstört worden ist.

STANDARD: Sie fordern von der Politik, alles zu unternehmen, um Verhandlungen zu erreichen, betonen aber, dass der Ukraine kein Kapitulationsfriede aufgezwungen werden dürfe. Das heißt also, die Ukraine muss mit dem Aggressor einen Kompromiss finden?

Haslinger: Wie soll es sonst ausgehen? Die Nato kann die Ukraine mit Waffen vollstopfen, die Russen werden ihrerseits nachmunitionieren, aber nicht zurückweichen. Dann stehen die Nato-Waffen den russischen Waffen gegenüber, jeweils mit neuester Vernichtungstechnik. Der Zermürbungskrieg, der schon begonnen hat, kann lange dauern. Das Einzige, was uns am Ende retten wird, sind Verhandlungen. Aber die werden dann noch schwieriger sein, weil die in schwere Not geratene Zivilbevölkerung für ein gutes Jahrhundert jeweils nur noch eine Loyalität und einen Feind kennen wird. Ist man blind, um nicht zu erkennen, in welcher Logik die Fortsetzung des Krieges gefangen ist?

"Die Nato kann die Ukraine mit Waffen vollstopfen, die Russen werden ihrerseits nachmunitionieren, aber nicht zurückweichen. Dann stehen die Nato-Waffen den russischen Waffen gegenüber, jeweils mit neuester Vernichtungstechnik."

STANDARD: Wurde nicht alles versucht, um mit Putin zu verhandeln? Es gab Vermittlungsangebote, zahlreiche Staatschefs haben ihn persönlich besucht, er bewegte sich keinen Millimeter.

Haslinger: Putin sieht natürlich auch, dass Europa wieder einmal gespalten ist. Das macht es ihm leichter. Daher hängt es letztlich von den Amerikanern ab, wann der Krieg in eine Verhandlungsphase mündet. Ende März waren Russen und Ukrainer schon nahe daran sich auf eine Neutralität des Landes zu einigen. Da ist ein goldener Zeitpunkt für einen Kompromiss versäumt worden. Nun geht es nicht um Einzelgespräche, sondern um eine konzertierte Aktion für einen Waffenstillstand. Die gesamte Nato und alle weiteren Staaten, die die Ukraine in diesem Krieg unterstützen, müssen ihre Verhandlungsbereitschaft signalisieren. Ob es etwas bringt, wird man sehen. Aber einen Versuch ist es allemal wert, zumal die Alternative eines zusehends aggressiver werdenden Krieges mit unabsehbaren Folgen noch hoffnungsloser ist.

STANDARD: Die Entscheidung, weiterhin schwere Waffen zu liefern, hat sich als richtig erwiesen, denn die befürchtete Eroberung des ganzen Südens durch Russland, um eine Landbrücke bis Transnistrien errichten zu können, wurde bisher vereitelt. Es konnten von der Ukraine auch Gebiete zurückerobert werden. Ist es wirklich ratsam, die militärische Hilfe jetzt erneut infrage zu stellen?

Haslinger: Der Anspruch, sich die ganze Ukraine einzuverleiben, ist, wenn es ihn je ernsthaft gegeben hat, militärisch vom Tisch. Der Krieg ist in eine neue Phase getreten, in der er von keiner Seite gewonnen werden kann. Worauf soll die militärische Aufrüstung im Osten der Ukraine hinauslaufen? Auf eine Rückeroberung der Gebiete? Das wird schlicht nicht stattfinden. Es wird zu einem eingefrorenen Konflikt kommen und einer Verschärfung der jetzt schon absehbaren Folgen für die ganze Welt: Energieversorgungsprobleme und Inflation im Westen, Hunger in Afrika.

STANDARD: Sie lassen in dem Brief anklingen, dass die Ukraine die Regionen Krim, Donezk und Luhansk als verloren aufgeben müsste. Ist das nicht doch eine aufoktroyierte Kapitulation?

Haslinger: So steht es nicht in unserem Appell. Aber es steht darin, dass man Kompromisslösungen wird finden müssen. Wie die aussehen und welcher Status welchen Teilen der umkämpften Gebiete zukommen wird, ist Ergebnis dieser gewiss nicht leichten Verhandlungen. Wenn ein Waffenstillstand erreicht ist, werden zumindest nicht weiter Menschen getötet und nicht weiter Regionen zerstört.

STANDARD: Würde eine Aufgabe dieser Regionen Putin wirklich stoppen oder ihn nicht viel mehr zu weiterer Landnahme motivieren?

Haslinger: Ein Verhandlungsfriede bedarf internationaler Garantien und regionaler Sicherheitsvereinbarungen. Einen Vertrauensvorschuss hat Putin gewiss nicht verdient. Am Ende wird nicht die Gerechtigkeit siegen, das ist wohl selten der Fall. Es geht darum, noch größeren Schaden von der Ukraine abzuwenden. Eine moralische Frage stellt sich nämlich auch bei der Fortsetzung des Krieges. Wie viel weitere Zerstörung und Vernichtung der ukrainischen Zivilbevölkerung wollen wir in Kauf nehmen, wenn der Sieg sich dann nicht und nicht einstellen will? Und ist es eigentlich okay, wenn wir zur Erreichung der geostrategischen Ziele des Westens die ukrainische Jugend verheizen, ohne selbst in die Kämpfe einzugreifen? Die Nato ist im Krieg mit Russland, aber lässt die Kämpfe bequemerweise von der ukrainischen Jugend ausfechten. Das ist eine Konstellation mit Ablaufdatum zuungunsten der Ukraine.

STANDARD: Die Nato hilft bei der Verteidigung der ukrainischen Souveränität. Man hat nicht den Eindruck, dass die Kampfmoral der Ukrainerinnen und Ukrainer, den Preis für Verhandlungen möglichst hochzutreiben, erschöpft ist. Jetzt soll der Westen sagen: Schluss, keine Waffen mehr, und die Russen werden stoppen?

Haslinger: Die Russen werden vielleicht stoppen. Auch Putin braucht ein Ausstiegsszenario aus diesem Krieg.

"Eine moralische Frage stellt sich nämlich auch bei der Fortsetzung des Krieges. Wie viel weitere Zerstörung und Vernichtung der ukrainischen Zivilbevölkerung wollen wir in Kauf nehmen, wenn der Sieg sich dann nicht und nicht einstellen will?"

STANDARD: Bei manchen Unterzeichnenden des ersten Briefs schwang viel Misstrauen gegenüber der Nato und den USA mit. Das konnte man auch als Antiamerikanismus interpretieren.

Haslinger: Ich habe eine Kritik am Verhalten der Nato herausgelesen, aber keinen Antiamerikanismus.

STANDARD: Ex-Pen-Club-Präsident Deniz Yücel wiederum trat nach Kritik an seiner Äußerung zurück, die Nato solle eingreifen und den Luftraum über der Ukraine sperren. Sie sprangen daraufhin als Interimspräsident des Pen-Clubs ein.

Haslinger: Der Rücktritt von Deniz Yücel hatte völlig andere Gründe. Er hatte mit einer Opposition gegen seine vereinsinternen Feldwebelallüren zu tun, aber nichts mit seiner Stellungnahme zum Ukraine-Konflikt.

STANDARD: Überfordert dieser Krieg die Intellektuellen? Es geht schließlich um Geopolitik und Militärstrategie.

Haslinger: Wenn zu den Fragen von Krieg und Frieden nur noch Militärstrategen zu Wort kommen, dann können wir die demokratische Öffentlichkeit zusperren. Der Sinn dieses Appells liegt darin, einen Diskussionsbeitrag zu liefern, um den Konflikt Russland – Ukraine aus der militärischen Logik, in der sich die meisten Politiker verfangen haben, herauszulösen. (INTERVIEW: Stefan Weiss, 6.7.2022)