Sein Ohr hat er ganz nah an seinem Chef. Wenn der EU-Kommissar Olivér Várhelyi eine Aktion ausführt, kann man davon ausgehen, dass ihm sie der ungarische rechtsnationalistische Populist und Premier Viktor Orbán aufgetragen hat. Ungarn verfolgt über seine Einflussmöglichkeiten, die Várhelyi als EU-Erweiterungskommissar hat, langfristige strategische Ziele auf dem Westbalkan. Unter Várhelyis Führung hat die EU-Kommission in Südosteuropa, insbesondere in jenen Staaten, die nicht zum Klub gehören, in den vergangenen Jahren eine völlig neue Agenda: Unterstützt werden nun mithilfe der EU in Brüssel völkische Ideologien und deren Vertreter vor Ort und die Auffassung, dass diese oft autoritär gesonnenen lokalen Politiker, die EU als eine Art Bankomat für sich nutzen sollen.

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán und der ungarische EU-Kommissar Olivér Várhelyi im Gespräch mit Werner Hoyer, Präsident der Europäischen Investitionsbank (v. li.).
Foto: Ludovic MARIN / AFP

Völkische Nationalisten in der Region unterlaufen mit der Unterstützung Russlands ohnehin die Rechtsstaatlichkeit, die territoriale Integrität der Staaten und die bürgerlichen Freiheiten – mit Ungarns Hilfe in der EU-Kommission verstärkt sich dies aber noch. Interessanterweise nehmen maßgebliche liberal gesonnene Kräfte in der EU wenig Notiz von diesen Entwicklungen und steuern nicht entsprechend dagegen.

Hinterzimmer-Deals mit Várhelyi

Gerade weil der letzte EU-Gipfel ohne irgendeinen Plan oder eine Strategie für den Westbalkan blieb, kann der ungarische Kommissar nun noch mehr in das Vakuum hineinstoßen. Am Mittwoch lud er die drei bosnischen "Stammesführer" – die Vertreter der drei größten Volksgruppen-Parteien, der bosnisch-serbischen extrem nationalistischen SNSD, der herzegowinisch-kroatischen extrem nationalistischen HDZ und der bosniakischen nationalistischen und klientelistischen SDA, Milorad Dodik, Dragan Čović und Bakir Izetbegović – nach Brüssel ein, um an einem intransparenten, undemokratischen Hinterzimmer-Deal zu schmieden.

In Diplomatenkreisen heißt es, EU-Beamte würden darauf bestehen, dass Izetbegović ein "bosniakisch-kroatisches" Abkommen unterzeichnet, um die Beziehungen zwischen Kroaten und Bosniaken zu "entspannen". Die Notwendigkeit einer "Entspannung" ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass die kroatisch-nationalistische HDZ unbedingt erreichen will, dass das Wahlgesetz so verändert wird, dass nur mehr ein Vertreter oder eine Vertreterin der HDZ als Kroatin oder als Kroate Mitglied des Staatspräsidiums werden kann – und nicht auch liberal oder links gesonnene bosnische Kroaten wie das jetzige Mitglied des Staatspräsidiums, Željko Komšić.

Erpressungen und Drohungen

Die HDZ in Bosnien-Herzegowina versucht deshalb seit Monaten, die EU und die maßgeblichen Akteure im Lande, unterstützt von Kroatien, dazu zu bringen, die nationalpolitischen Ziele der HDZ zu unterstützen. Zuletzt wurde bekannt, dass ein Gespräch in Mostar abgehört worden war, in dem Nationalisten androhten, dass sie verfassungswidrigerweise einen eigenen Landesteil für "Kroaten" in Bosnien-Herzegowina ausrufen und gewaltsame Ausschreitungen im "heißen" Oktober, dem Monat, in dem gewählt werden wird, organisieren werden.

Als Drohung dieser kroatischen Nationalisten wurde auch die Zerstörung des Partisanen-Friedhofs des Architekten Bogdan Bogdanović in Mostar vor drei Wochen gedeutet. Statt aber diese gewaltandrohenden Kräfte in die Schranken zu weisen, versucht man ihnen nun offenbar seitens der EU mit politischen Deals entgegenzukommen.

Scharfe Kritik der Nichtnationalisten an der EU

Der Bosniake Izetbegović hatte die Einladung Várhelyis noch vor wenigen Tagen zurückgewiesen und argumentiert, dass mit der Einladung der "Stammesführer" die Institutionen des Staates Bosnien-Herzegowina unterlaufen würden. Doch der Druck wurde offenbar größer, und er reiste dann doch am Mittwoch nach Brüssel. In Sarajevo gab es an der Vorgangsweise von Várhelyi seitens nichtnationalistischer, liberaler und linker Politiker jedoch scharfe Kritik.

Die Politikerin der progressiven Partei Naša stranka, Sabina Ćudić, meinte etwa, Dodik, Čović und Izetbegović würden von dem Ansatz der EU profitieren und Legitimität erhalten, so als ob "Völker und ihre selbsternannten Führer über dem Staat und seinen Institutionen stehen" würden, so Ćudić. Sie betonte, dass ihre Partei dem Ergebnis der Verhandlungen nicht zustimmen werde; der Internationalen Gemeinschaft müsse zudem klar gesagt werden, dass man solche Verhandlungen nicht tolerieren werde.

Skandalös und beleidigend für Bosnien

Der Chef der Sozialdemokraten (SDP) Nermin Nikšić nannte das Vorgehen von Várhelyi "skandalös und beleidigend für den Staat Bosnien-Herzegowina". "Es ist für einen hochrangigen EU-Beamten unerhört, die offiziellen Institutionen des Staates zu ignorieren", so Nikšić. "Herr Várhelyi folgt eindeutig der nationalistischen Matrix seines Chefs Viktor Orbán." Dieser wiederum unterstütze Dodik und dessen Anhänger.

Nikšić meinte auch, es sei unglaublich, dass Staaten Mitglieder der EU seien, die "ethnische Spaltungen und parainstitutionelle Aktionen förderten, während dieselbe EU Bosnien und Herzegowina dafür kritisiere, dass sie europäische Standards nicht erfülle". Auch der Mitte-links-Politiker Željko Komšić, Mitglied im Staatspräsidium, übte scharfe Kritik an der EU: "Statt Sanktionen gegen Čović und Dodik wegen der Verhinderung von Reformgesetzen zu verhängen, präsentierten diese ihre Pläne für die Teilung von Bosnien-Herzegowina", so Komšić. Tatsächlich haben Čović und Dodiks Parteien gegen Gesetze gestimmt, die notwendig sind, damit Bosnien-Herzegowina den Kandidatenstatus bekommen kann.

Völkisches Denken des Ungarn

Várhelyi denkt ganz offensichtlich wie Čović und Dodik in völkischen Kategorien und glaubt, dass die "Stammesführer" – nicht das Parlament, nicht die Vielfalt von demokratischen Parteien im pluralistischen Staat Bosnien-Herzegowina und nicht die Bürger – entscheiden sollten.

Doch er ist mit dieser oberflächlichen und destabilisierenden Vorgangsweise weder alleine noch der Erste. Viele europäische Politiker haben in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder uneuropäische Vorschläge für Bosnien-Herzegowina gemacht. Sie folgen bis heute der Annahme, in Bosnien-Herzegowina gebe es einen Konflikt zwischen Volksgruppen und man solle Kompromisse und Lösungen über Verhandlungen mit den "Vertretern" dieser "Volksgruppen" – der Bosniaken, der Serben und der Kroaten – finden. Damit geben sie den Nationalisten starke Unterstützung und untergraben die Institutionen des Staates und die Legitimität der nichtnationalistischen Parteien und der Staatsbürger.

Der neue Cutileiro

Várhelyi wird wegen seiner Strategie in Expertenkreisen deshalb mit dem ehemaligen portugiesischen Diplomaten José Pires Cutileiro verglichen, der in den 1990er-Jahren als Sondergesandter des UN-Kommissariats für Menschenrechte in Bosnien-Herzegowina sogar die Zerstörung und Aufteilung des Staates Bosnien-Herzegowina nach ethnischen Kriterien unterstützte, genau so wie die Nationalisten im Lande. Auch damals gab es Widerstand gegen die Vorgangsweise der Diplomaten wie Cutileiro.

Am 12. März 1992 schaltete sich etwa das Europäische Parlament ein und forderte die Aufrechterhaltung der multiethnischen Bürgerrepublik Bosnien-Herzegowina und eine Korrektur des europäischen Vermittlungsansatzes. Cutileiro solle auf das ethnische Kriterium verzichten, weil dies gegen europäische Werte und Normen verstoße, verlangte das Europäische Parlament und forderte die Einbeziehung der multiethnischen Oppositionsparteien. Außerdem warnte das EU-Parlament Serbien und Kroatien vor Einmischung in die inneren Angelegenheiten Bosniens-Herzegowinas und die Verletzung der bosnischen Außengrenzen.

Großserbien und Großkroatien

Bosnien-Herzegowina wird als Gesamtstaat heute wie damals von serbischen und kroatischen völkischen Nationalisten von innen heraus angegriffen. So wie in den 1990er-Jahren werden diese Nationalisten, die die Grenzen ändern wollen, auch von Kroatien und von Serbien unterstützt. Dodik und Čović wollen ganz offensichtlich die nie aufgegebenen Kriegsprojekte – die Schaffung von "Großserbien" und "Großkroatien" – Realität werden lassen. Offen droht Čović etwa mit der Einführung von "Herceg-Bosna", einer eigenen Entität im Staate, obwohl dies der Verfassung von Bosnien-Herzegowina widerspricht. Und er redet in Brüssel von "Benachteiligung der Kroaten und legitimer Repräsentation". Weil sich viele EU-Politiker nicht auskennen und von serbischen und kroatischen Nationalisten mit Propaganda versorgt werden, folgen sie diesen Erzählungen sogar.

Die EU-Kommission flankiert Dodiks und Čović' Abspaltungspolitik ohnehin durch Beschwichtigungspolitik. In den vergangenen eineinhalb Jahren wurde von EU-Vertretern ungezählte Male versucht, bei Verhandlungen den Nationalisten "etwas" zu geben, weil man denkt, dass sie dann Ruhe geben würden, oder weil man selbst stark von Lobbyisten aus Kroatien oder Serbien beeinflusst ist. Dies alles geschieht gegen den expliziten Willen der Bürger von Bosnien-Herzegowina, die zuweilen sogar gegen die Ankunft der Emissäre aus Brüssel demonstrieren.

Pluralistische Staaten in der Doppelzange

Für die Bürger von Bosnien-Herzegowina, die nicht in einem "Ethno-Zoo", sondern in einem Staat leben wollen, in dem die Rechte des Einzelnen und die europäischen Werte zählen, wirkt die Politik der EU-Kommission mittlerweile bedrohlich. Denn die Bürger erkennen, dass die EU-Politik auf dem Balkan mittlerweile von Ansätzen revisionistischer Regierungen in Ungarn, in Kroatien und Bulgarien geprägt ist. Dazu kommt noch die Bedrohung durch die revisionistische Politik aus Serbien. Pluralistische Staaten wie Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Montenegro und Nordmazedonien werden durch diese Entwicklungen in eine doppelte Zange genommen – seitens lokaler Nationalisten und der Revisionisten in der EU, die beide vom Kreml unterstützt werden. (Adelheid Wölfl aus Sarajevo, 6.7.2022)