Nur eine republikanische Erdrutschwahlniederlage kann diesem Supreme Court Grenzen setzen, sagt George Soros, der Gründer der Open Society Foundations im Gastkommentar.

Eine Mutter umarmt ihre Tochter bei einer Mahnwache in Washington. Zuvor kippten Höchstrichter das Abtreibungsrecht.
Foto: Reuters / Evelyn Hockstein

Die USA sind seit ihrer Gründung im Jahr 1776 eine sich ständig weiterentwickelnde Demokratie, doch nun ist ihr Überleben als Demokratie stark gefährdet. Verantwortlich für diese Krise ist eine Anzahl lose verknüpfter Entwicklungen im In- und Ausland.

Vom Ausland her werden die USA durch repressive Regime unter Führung von Xi Jinping in China und durch Wladimir Putins Russland bedroht, die weltweit eine autokratische Regierungsform durchsetzen wollen. Noch größer jedoch ist die Gefahr, der die USA durch Feinde der Demokratie im eigenen Land ausgesetzt sind. Hierzu gehören der aktuelle, von Rechtsextremisten dominierte Supreme Court und Donald Trumps Republikanische Partei, die diese Extremisten ernannt hat.

Was qualifiziert die Mehrheit des Gerichts als Extremisten? Es ist nicht bloß ihre Entscheidung zur Aufhebung von Roe v. Wade, dem bahnbrechenden Gerichtsentscheid aus dem Jahr 1973, in dem das Recht einer Frau, selbst zu entscheiden, ob sie gebären möchte, anerkannt wurde. Was sie als Extremisten qualifiziert, sind die Argumente, auf die sie ihre Entscheidung gründen, und die Andeutungen, wie weit sie bei der Umsetzung dieser Argumente zu gehen bereit sein könnten.

Referenz 1868

Richter Samuel Alito, der Verfasser der Mehrheitsmeinung, stützte sein Votum auf die Behauptung, dass der 14. Verfassungszusatz nur jene Rechte schützt, die zum Zeitpunkt seiner Ratifizierung 1868 allgemein anerkannt waren. Dieses Argument gefährdet viele weitere seit damals anerkannte Rechte, darunter das Recht auf Verhütung, gleichgeschlechtliche Ehe und LGBTQ-Rechte. Diese Argumentation könnte es den Einzelstaaten sogar erlauben, Eheschließungen zwischen den Rassen zu verbieten, wie das einige bis 1967 taten. Es ist zudem klar, dass dieses Gericht die Absicht hat, einen Frontalangriff auf die Exekutive zu starten. Eines der folgenschwersten Urteile der gerade zu Ende gegangenen Gerichtsperiode entzog der US-Umweltschutzbehörde die Befugnis, zur Bekämpfung des Klimawandels erforderliche Rechtsverordnungen zu erlassen.

"Der Supreme Court war einmal eine jener US-Institutionen, die besonderen Respekt genossen."

Man braucht nicht lange, um den gemeinsamen Nenner der jüngsten Entscheidungen des Gerichts zu finden: Anliegen zu fördern, die von Trumps Republikanischer Partei unterstützt werden, und von der Demokratischen Partei favorisierte Anliegen zu schwächen oder für ungesetzlich zu erklären. Man denke an die Waffengesetze. Der radikale Flügel des Gerichts schenkt der Waffenlobby umfassend Gehör – obwohl eine jüngste Epidemie von Amokläufen landesweit einen derartigen Aufschrei hervorgerufen hat, dass selbst einige Republikaner ein neues Bundesschusswaffengesetz unterstützten.

Der Supreme Court war einmal eine jener US-Institutionen, die besonderen Respekt genossen. Durch ihre jüngsten Entscheidungen hat die extremistische Mehrheit seine Zustimmungsrate auf einen historischen Tiefstwert sinken und die Missbilligung gegenüber dem Gericht auf neue Höchstwerte steigen lassen. Die Minderheitsmeinung in dem Fall, der Roe v. Wade aufhob, erklärte ausdrücklich, dass die Mehrheitsentscheidung "die Legitimität des Gerichts untergräbt".

Ausgehölte Rechte

Es gibt nur einen Weg, um dem Supreme Court Grenzen zu setzen: den Republikanern bei den Wahlen eine Erdrutschniederlage zu bescheren. Das würde dem Kongress gestatten, die Rechte gesetzlich zu schützen, deren Schutz dem Supreme Court übertragen worden war. Es ist inzwischen klar, dass Letzteres ein großer Fehler war.

Der Kongress muss handeln – angefangen mit dem Schutz des freien Entscheidungsrechts von Frauen. Falls hierzu das Filibuster geändert werden muss, dann sei es so. Doch es gibt schier unüberwindbare Hindernisse. Die Republikaner haben nicht nur den Supreme Court und viele untergeordnete Gerichte mit extremistischen Richtern besetzt. In Staaten wie Florida, Georgia und Texas haben sie Gesetze erlassen, die das Wählen stark erschweren.

"Wir erleben derzeit, wie sie unser demokratisches System von jedem Winkel aus attackieren."

Während sich diese Gesetze darauf konzentrieren, die Rechte von Afroamerikanerinnen und Afroamerikanern, anderen Minderheiten und jungen Wählerinnen und Wählern zu beschneiden, besteht ihr letztendliches Ziel darin, den Republikanern zu Wahlsiegen zu verhelfen. Ein Bundesrichter in Florida hat es kürzlich, als er eines dieser Gesetze für ungültig erklärte, so formuliert: Es sei verabschiedet worden, "um Floridas Wahlsystem so umzustrukturieren, dass es die Republikanische Partei gegenüber der Demokratischen Partei begünstigt".

Diese Gesetze wären schlimm genug, wenn sie nur darauf zielten, wer wählen darf. Doch die Republikaner gehen inzwischen sogar noch weiter, indem sie das Auszählungsverfahren und das Verfahren zur Zertifizierung des Wahlergebnisses zu untergraben suchen. Wir erleben derzeit, wie sie unser demokratisches System von jedem Winkel aus attackieren – von Gesetzesänderungen, um die Zersetzung des Wahlsystems zu vereinfachen, bis hin zum Einsatz von Anhängern von Trumps Big Lie, man habe ihn 2020 um den Wahlsieg betrogen, bis zur Beaufsichtigung des Verfahrens. Auch hier hat der radikale Supreme Court seinen Beitrag geleistet, indem er den Voting Rights Act ausgehöhlt und eine offenkundig parteiliche Neuordnung der Wahlkreise zur Schwächung der Stimmrechte von Minderheiten zugelassen hat.

Wachgerüttelte Öffentlichkeit

Zum Glück bin ich nicht der Einzige, der behauptet, dass das Überleben der Demokratie in den USA stark gefährdet ist. Die Öffentlichkeit wurde durch die Entscheidung zur Aufhebung von Roe v. Wade aufgerüttelt. Doch müssen die Menschen diese Entscheidung als das erkennen, was sie ist: als Teil eines sorgfältigen Plans, die USA in ein repressives Regime zu verwandeln.

Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um dies zu verhindern. Dieser Kampf sollte auch viele derjenigen einschließen, die in der Vergangenheit für Trump gestimmt haben. Ich bin ein Unterstützer der Demokratischen Partei, aber dies ist keine parteipolitische Frage. Es geht darum, wieder ein funktionierendes Zweiparteiensystem zu etablieren, das den Kern der amerikanischen Demokratie bildet. (George Soros, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 6.7.2022)