Statt allein zu Hause zu sitzen, animiert die isländische Regierung Teenager dazu, gemeinsam in Jugendzentren Computer zu spielen.

Foto: imago images/Jochen Tack

Wenn Heiða Björg Hilmisdóttir am Abend aus dem Rathaus in Reykjavík marschiert, ist ihr Arbeitstag noch lange nicht beendet. Die Stadträtin – blondes Haar, getönte Brillengläser, lange rote Fingernägel, schwarze Lederjacke – ist stellvertretende Vorsitzende der Sozialdemokratischen Koalition Islands und Vorsitzende des Nationalen Wohlfahrtsrats. Außerdem hat sie vier Kinder. Und das bringt in Island ganz spezielle Pflichten mit sich.

Eine davon ist, dass Mütter und Väter täglich in kleinen Gruppen während obligatorischer "Spaziergänge" in der Nachbarschaft patrouillieren. Ihr Ziel: Jugendliche nach der Ausgangssperre – im Winter 22 und im Sommer 24 Uhr – ansprechen und, wenn nötig, nach Hause begleiten. Von diesen Pflichten sind auch Politikerinnen nicht ausgenommen. Aber Björg Hilmisdóttir steht ohnehin voll und ganz hinter der Initiative, die sich "Jugend in Island" nennt.

Heiða Björg Hilmisdóttir steht voll hinter der Initiative "Jugend in Island".
Foto: Stadtverwaltung Reykjavík

Die Regierung hat sie in den 1990er-Jahren ins Leben gerufen, um den Konsum von Alkohol, Nikotin und anderen Drogen unter Jugendlichen zu verringern. Damals lagen die isländischen Jugendlichen europaweit auf dem unrühmlichen ersten Rang, was Alkoholkonsum anging.

Eine Umfrage unter 15- und 16-Jährigen zeigte damals: 42 Prozent waren im vergangenen Monat betrunken, jeder Vierte rauchte täglich. Heute rangieren die isländischen Teenager bei Alkohol- und Nikotinkonsum auf dem letzten Platz. Das liegt vor allem an den Schlüssen, die die isländische Regierung gezogen hat. Dieselbe Umfrage zeigte nämlich auch, dass Jugendliche, die wenig Alkohol trinken, mehr Zeit mit ihren Eltern verbringen, sportlich aktiver sind und sich generell besser fühlen.

Initiative "Jugend in Island"

Neben Sperrstunden und Spaziergängen hat die Regierung das Freizeit- und Sportangebot massiv ausgebaut. Allein in Reykjavík können Jugendliche aus über 200 Aktivitäten wählen. Jedes Kind bekommt zudem einen Freizeitgutschein im Wert von 360 Euro pro Jahr, und an Eltern ging die Empfehlung, mehr Zeit mit ihrem Nachwuchs zu verbringen.

Das Maßnahmenpaket hat Wirkung gezeigt. Das zeigt die Umfrage, die jährlich unter allen Zehn- bis 20-Jährigen durchgeführt wird. 2022 haben nur noch fünf Prozent im letzten Monat Alkohol getrunken, nur ein Prozent raucht täglich. Darauf ist man stolz im Inselstaat und will das isländische Suchtpräventionsmodell in die Welt hinaustragen. In Regionen von "Australien bis Chile" habe die isländische Organisation Planet Youth das Konzept adaptiert und implementiert.

Doch würde die Initiative auch in Österreich funktionieren? Für Stefan Löffelmann ist das isländische Modell mit Freizeit, Sport, Kunst und Kultur durchaus ein hilfreiches Angebot im Bereich der Suchtprävention. Der Sozialarbeiter beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit suchtkranken Menschen. An einer starken Vereinskultur mangle es in Österreich nicht. Das Problem sei vielmehr deren fehlende Abgrenzung zu Alkohol und Nikotin. Aus Untersuchungen sei bekannt, dass Fußball und Alkohol oft Hand in Hand gehen, sagt auch der klinische Psychologe Wolfgang Beiglböck. Die beiden Experten arbeiten in der Suchtklinik Anton-Proksch-Institut.

Selbstvertrauen stärken

Ein ähnliches Bild zeige sich auch in anderen Vereinen. "Österreich ist immer noch ein Alkoholland", sagt Beiglböck, wenngleich die Zahlen auch hierzulande seit Jahren zurückgehen. Der durchschnittliche Wochenkonsum ist seit 2003 um ein Drittel gesunken und liegt derzeit bei einem kleinen Bier pro Woche.

Trotzdem sind sich die beiden Experten einig: Einmal pro Jahr einen Suchtexperten in Schulklassen zu schicken ist zu wenig. Wichtig wäre, stattdessen nach isländischem Vorbild intensiv und bereits ab dem Kindergarten in Ressourcen zu investieren, die das Selbstvertrauen und die eigene Meinung stärken. "Nur so lernen Jugendliche Nein zu sagen", so Löffelmann. Effektiv seien zudem eine gute Eltern-Kind-Beziehung und tiefgehende Gespräche.

Bei all den positiven Ansätzen in Island übt Beiglböck aber auch leise Kritik. Die jährlichen Umfragen und die daraus erhobenen Daten seien zwar "äußerst wertvoll", allerdings in einem Land mit 360.000 Einwohnerinnen und Einwohnern wie Island wesentlich einfacher durchzuführen als in Österreich mit knapp neun Millionen Menschen.

Auch langfristige Effekte fehlen dem klinischen Psychologen bei der isländischen Herangehensweise. Ob der Alkoholkonsum, wie etwa in vielen Staaten der USA, im Erwachsenenalter nachgeholt wird, sei noch unklar.

Aber auch ohne spezielle Maßnahmenpakete haben Alkohol und Nikotin laut Beiglböck ein anderes Image bekommen und seien weniger interessant für Jugendliche. Dieser Trend zeichne sich in ganz Europa ab, dafür nehmen Suchtprobleme in den Bereichen Gaming und Social Media zu.

Beim Zocken vor dem Computer plädiert Löffelmann dafür, das Kind nicht mit dem Bad auszuschütten. Dass Kinder und Jugendliche viel Zeit vor dem Computer verbringen, sei per se nicht alarmierend. Wichtig sei zu beobachten, ob daneben keine anderen Hobbys mehr vorhanden sind. Er empfiehlt Eltern zudem, Interesse an Aktivitäten auszudrücken, die Kinder gerne machen.

Gerade bei Medienkonsumverhalten und dem Umgang mit dem Handy müssen Eltern sich selbst hinterfragen, sagt Lisa Brunner, Leiterin des Instituts für Suchtprävention der Sucht- und Drogenkoordination Wien. Wer immer das Smartphone in der Hand halte, kann schlecht andere maßregeln. Hilfreich sei, fixe Zeiten für das Handy oder die Spielkonsole zu vereinbaren. Die Elternberatung steht mit Ratschlägen zur Verfügung.

Gamen professionalisieren

Die Auswirkungen von Computerspielen und Social Media beobachtet auch das isländische Forschungsinstitut Planet Youth mit Argusaugen. Ihren jährlichen Umfragen entnehmen sie nicht nur ein gesteigertes Suchtpotenzial – vor allem Mädchen würden häufiger unter Depression und Angstzuständen leiden, großteils hervorgerufen von Instagram, Tiktok und Co, erklärt Margret Lilja Gudmundsdottir, Datenexpertin bei Planet Youth.

Die isländische Regierung hat an Eltern bereits eine Empfehlung für eine Bildschirmzeit ausgegeben. In Schulen sind Handys teilweise auszuschalten oder ganz abzugeben, erzählt Gudmundsdottir. Computerspielen hingegen ist als E-Sport bereits professionalisiert und Teil von "Jugend in Island".

Die Jugendlichen können gemeinsam mit Freunden in einem der Jugendzentren Computer spielen, sind also nicht isoliert zu Hause und werden in E-Sport speziell gefördert. Auch hierfür gilt der Freizeitgutschein, allerdings nur in Kombination mit einer physischen Aktivität.

Über dieses Konzept hat sich Jugendstaatssekretärin Claudia Plakolm (ÖVP) während eines Besuchs in Island Anfang Mai informiert. Immerhin würden auch in Österreich 5,3 Millionen Menschen Videospiele spielen. Rund 1,3 Millionen messen sich in E-Sport. Besonders bei den unter 25-Jährigen sei das Interesse überproportional hoch: 64 Prozent betrachten E-Sport als sportlichen Wettkampf.

"Wir müssen schauen, dass aus Spaß keine Sucht wird", sagt Plakolm, und dass man Entwicklungen vor allem nicht verschlafen dürfe, während man noch auf "alte Konsummittel" wie Alkohol und Zigaretten starre. Island habe vor 20 Jahren ein einzigartiges Suchtpräventionskonzept entwickelt. "Wir werden sehen, was davon sich auf die neuen Herausforderungen im Onlinebereich umlegen lässt", sagt die Jugendstaatssekretärin, und "was kann es Cooleres geben, als neben einer Ski- auch eine Gaming-Nation zu werden." (Julia Beirer aus Reykjavík, 16.7.2022)