Illustration: Fatih Aydogdu

Dass sich Menschen in Beziehungen ein gemeinsames Konto teilen, gehört zur Normalität. In Brüssel hat sich eine Gruppe Kunstschaffender vor viereinhalb Jahren aber gedacht: Warum nicht ein gemeinsames Bankkonto eröffnen und das Geld gemeinschaftlich nutzen? Common Wallet beziehungsweise gemeinsame Geldbörse heißt das Projekt. Hier zahlt jede der neun Personen ein, was sie kann – und nimmt heraus, was sie braucht.

Damit will das Kollektiv ökonomische Solidarität in der Praxis leben. Aber gleichzeitig auch mit der gesellschaftlichen Vorstellung aufräumen, dass der Mensch durch sein Einkommen definiert wird. Anna Rispoli, Künstlerin und Aktivistin, gründete das Projekt mit und erzählt im Gespräch, wie das Common Wallet ihre Sicht auf Geld verändert hat, welche Probleme über die Jahre aufgetreten sind und inwiefern sich gesellschaftlich ändern muss, wie Menschen Geld wahrnehmen.

STANDARD: Frau Rispoli, einmal zurückgeblickt: Wann und wie entstand das Common Wallet?

Rispoli: Wir haben im Jänner 2018 in Brüssel damit angefangen. Da kannten sich noch nicht alle, daher war es schon eine Herausforderung. Am Anfang war das Common Wallet eher der Nebeneffekt einer größeren Aktion. Wir wollten eine Kooperative schaffen, um künstlerische Arbeit zu produzieren und zu verbreiten. Innerhalb dieser Kooperative wollten wir einen gemeinsamen Topf etablieren, über den wir Einnahmen verteilen konnten. Es sollte keine strikte Buchhaltung geben. Wir wollten nicht, dass ständig kontrolliert wird, wie viel jemand in das Projekt steckt und wie viel er herausnimmt.

Wir haben uns entschieden, ein Experiment daraus zu machen, und dann drei Monate lang geschaut, wie es sich anfühlt. Ohne zu bewerten, zu kontrollieren oder zu zählen. Danach fanden wir es alle so interessant, dass es unser Hauptprojekt wurde. Wir haben das mit der Kooperative bleiben lassen und konzentrierten uns auf diese informelle Art, Geld zu teilen.

Anna Rispoli ist Künstlerin und gründete 2018 Common Wallet mit. Sie lebt und arbeitet in Brüssel.
Foto: Bea Borgers

STANDARD: Wie viele Personen gehören derzeit dazu?

Rispoli: Seit 2018 hat sich die Gruppe etwas verändert. Wir haben angefangen mit zehn Menschen, dann wurden es elf. Derzeit sind wir neun. Vielleicht schließt sich bald wieder jemand an. Aber es gibt eine starke Kerngruppe, die von Anfang an dabei ist.

STANDARD: Wie funktioniert das Common Wallet in der Praxis?

Rispoli: Sagen wir, zehn Leute teilen sich den monatlichen Cashflow. Alles, was wir verdienen, landet im selben Bankkonto. Alles, was wir jeden Monat brauchen, kommt von dort. Es gibt aber Ausnahmen. Wir haben es zum Beispiel noch nicht geschafft, Ersparnisse zu teilen – die liegen alle noch auf privaten Bankkonten. Wir teilen auch keine Immobilien oder Grundstücke, die bleiben individuelles Eigentum.

Die Grenzen sind trotzdem fließend. Viele in der Gruppe haben etwa Kinder. In gewisser Hinsicht teilst du die Ausgaben für die Kinder. Du teilst, was Eltern für ihre Kinder zur Seite legen. Manche bauen ein Haus oder kaufen eine Wohnung – mit Geld aus dem Common Wallet. In gewisser Weise gestaltet man zusammen die Zukunft.

STANDARD: Welche Probleme traten im Laufe des Projekts auf?

Rispoli: Es gibt Hindernisse, die jedes Kollektiv überwinden muss. Wie spricht man miteinander, oder wie erhält man das Vertrauen in der Gruppe? Von ähnlichen Projekten haben wir gelernt, dass Transparenz extrem wichtig ist. Wir haben zu neunt ein Konto. Man kann sich also vorstellen, wie viel Bewegung da stattfindet. Da ist es schwierig, den Überblick zu bewahren. Deshalb muss alles transparent sein.

Probleme tauchen oft während den Ferien auf. Da treffen wir uns natürlich lange Zeit nicht, im Sommer ist eben immer eine große Pause. Oft entsteht dann ein Gefühl der Entfremdung. Man versteht nicht, was die Gründe für eine hohe Ausgabe vom Konto sind. Plötzlich ist dann vielleicht mal kurzfristig kein Geld da, das man im Urlaub gerade braucht. Die Distanz, die dann zwischen uns herrscht, kann problematisch sein.

Ein weiteres Problem sind Schuldgefühle. Für die meisten Menschen ist es schwierig, besonders wenn sie in einer prekären Situation sind. Es bereitet ihnen Unbehagen, sich auf die Solidarität ihrer Kollegen zu verlassen. Manche fühlen sich nicht berechtigt, von dem Geld anderer Leute zu leben. Es ist sehr interessant, wie dieses Schuldgefühl mit dem Konzept des Scheiterns zusammenhängt. Es ist schwierig, das loszuwerden. Aber das ist auch Übungssache und Gewohnheit. Nach vier Jahren, durchaus mit Höhen und Tiefen, bin ich insgesamt sehr froh darüber, was wir erlebt haben.

STANDARD: Gibt es Momente, in denen es finanziell eng wird?

Rispoli: Es gibt Momente, da haben wir kein Geld auf dem Konto. Wir haben immer eine Person, die sich jeden Monat um den Stand der Dinge kümmert. Sie schlägt Alarm, wenn nur noch 100 Euro auf dem Konto sind. Wir haben aber gelernt, dass wir darüber Witze machen können. Mittlerweile ist es kein Drama mehr, ein paar Tage kein Geld auf dem Konto zu haben. Weil irgendwann bekommt jemand sein Gehalt oder eine Zahlung.

Es kann schon jeden Monat stressig werden. Aber es ist viel stressiger, wenn man damit auf sich alleingestellt ist. Gemeinsam können wir uns auf unser System verlassen. Es ist ja kein revolutionäres Projekt – wir benutzten ein ganz normales Bankkonto. Aber wir wollen dem widersprechen, dass man sich dem allen allein stellen muss.

STANDARD: Welche Vorteile bringt euch das gemeinsame Bankkonto konkret?

Rispoli: Einige Leute konnten studieren gehen oder sich ein Jahr frei nehmen, um sich beruflich weiterzuentwickeln. Das alles war möglich, weil ein Überfluss vorhanden war, den man gemeinsam geschaffen hat. Andere konnten sich entscheiden, einen Job nicht anzunehmen, weil er ihnen nicht gut tut. Dann konnten sie ein paar Monate oder ein halbes Jahr warten. Solche Erfolgsmomente zeigen uns, dass es sinnvoll ist, was wir tun. Das Bewusstsein ändert sich, was man als Pflicht für die Gesellschaft sieht. Die eigene Wahrnehmung weitet sich aus, da man nicht in den individuellen Stress von Prekarität gezwängt wird.

STANDARD: Ist Common Wallet etwas für alle – unabhängig von sozialem Hintergrund und Einkommenslevel?

Rispoli: Unsere Gruppe besteht aus Menschen, die aus privilegierten Familien kommen, und aus Menschen, die nicht viel haben. Wir fragen uns aber auch selbst immer wieder, ob wir mit den Extremen auskommen könnten. Zum Beispiel mit einer Person, die spielsüchtig ist. Könnte sie am Projekt teilnehmen? Oder könnten wir jemanden aufnahmen, der ein wirklich enormes Vermögen hat und aus einer privilegierten Familie stammt? Diese Extreme haben wir im Moment nicht. Wir müssen uns immer dessen bewusst sein, dass wir eigene Leben haben, Kinder, Berufe oder andere aktivistische Gruppen. Die sind alle voneinander abhängig.

STANDARD: Also ist es nicht nur etwas für Menschen mit hohem Einkommen?

Rispoli: Im Gegenteil. Leute aus privilegierten Familien können vielleicht mehr mit dem Geld spielen. Aber es ist schwieriger für sie, das Geld loszulassen.

STANDARD: Wie hat sich durch das Projekt die Beziehung untereinander verändert?

Rispoli: Nach vier Jahren einer solchen innigen Beziehung zueinander lernt man sich natürlich besser kennen. Unter Künstlerinnen und Künstlern ist es bekannt, dass man manchmal ein paar Monate darauf wartet, bezahlt zu werden. Was wir aber vor allem entwickelt haben, sind Strategien. Sich nicht als Verlierer zu fühlen, weil man 45 Jahre alt ist und immer noch kämpfen muss. In gewisser Weise wird Common Wallet zu einer Wahlfamilie. Unsere Mitglieder können jederzeit aussteigen, das geht innerhalb von ein paar Wochen. Das Projekt soll so lange dauern, wie es nützlich für uns ist.

STANDARD: Inwiefern kritisiert ihr mit dem Projekt das bestehende System?

Rispoli: Für mich ist die Kritik, dass wir uns weigern, allein zu sein. Wir weigern uns, ein Opfer der Prekarität zu sein, eine einsame Person voller Schuldgefühle, voller Versagensgefühl. All das erkennen wir als gesellschaftliches Problem, nicht als individuelles Problem. Wenn die Gesellschaft nicht fähig ist, dieses Problem zu lösen, dann kann man mit anderen kreativ werden und ein Mikrosystem schaffen, in dem es anders ist. Wir glauben an die Kreativität als gesellschaftlichen Antrieb. Das Common Wallet ist ein mikropolitischer Vorschlag. Er soll andere Menschen inspirieren. Nicht unbedingt, dass sie ein weiteres Common Wallet schaffen, aber dass sie über die Wirksamkeit von Kollektiven und Gemeinschaften nachdenken.

STANDARD: Ist das Common Wallet aus Ihrer Sicht eine Alternative zum bedingungslosen Grundeinkommen?

Rispoli: Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist natürlich komplexer. Man braucht einen staatlichen Beitrag, um so eine Maßnahme umzusetzen. Aber ich glaube, dass damit die Verbindung zwischen Arbeit und Lohn getrennt werden kann. Und auch die Vorstellung, dass die Vollbeschäftigung das Ideal ist. Wir glauben immer noch, dass wir Vollzeit arbeiten müssen, um die Gesellschaft zu erhalten. Das ist nicht länger der Fall, die Situation hat sich geändert. Man hat jedenfalls das Recht, finanziell in Würde zu leben. Wir sollten nicht bezahlt werden, nur weil wir arbeiten. Wir sollten bezahlt werden, weil wir existieren. (Florian Koch, 8.7.2022)