Johnson behauptete am Mittwoch, dass sich die Regierung angesichts der gegenwärtigen Krise nicht verabschieden dürfe.

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London – Trotz scharfer Kritik aus den eigenen Reihen macht der britische Premierminister Boris Johnson derzeit keine Anstalten, von seinem Amt zurückzutreten. Sein Job sei es, weiterzumachen, sagte Johnson am Mittwoch in London. In der gegenwärtigen Krise sollte sich die Regierung nicht verabschieden. "Wir haben einen Plan, und wir machen weiter damit", so der konservative Regierungschef. "Wir werden unser Mandat weiter ausüben." Laut Berichten der "Daily Mail" war Johnson am Mittwoch von seinem eigenen Minister für Wohnungswesen, Michael Gove, zum Rücktritt aufgefordert worden.

Auf die Frage von Abgeordneten, unter welchen Umständen er zurücktreten würde, sagte der konservative Politiker, wenn er das Gefühl hätte, dass die Regierung nicht weitermachen könne. Nach Finanzminister Rishi Sunak und Gesundheitsminister Sajid Javid ist zuletzt unter anderem auch der für die Finanzbranche zuständige Minister John Glen zurückgetreten. Im Laufe des Mittwochs zogen dann immer mehr Staatssekretärinnen und Staatssekretäre die Reißleine. Bis zum frühen Abend traten 32 Regierungsmitglieder zurück. Johnson selbst bezeichnete als seine Verantwortung, inmitten von Ukraine-Krieg und Energiekrise Premierminister zu bleiben.

Johnson entschuldigt sich erneut

Zum Auftakt der traditionellen Befragung des Premiers im Parlament wies Johnson darauf hin, dass am Mittwoch eine große Steuersenkung für Familien in Kraft getreten sei. "Heute ist ein wichtiger Tag", sagte der Premier. Er entschuldigte sich zugleich erneut dafür, dass er seinen Parteifreund Chris Pincher in ein wichtiges Fraktionsamt gehievt hatte, obwohl er von Vorwürfen der sexuellen Belästigung wusste. Vorige Woche trat Pincher zurück. Johnson habe aber sofort gehandelt, als er von neuen Anschuldigungen gegen Pincher erfahren habe, behauptete der Premier.

Der Abgeordnete Chris Skidmore reichte einen Antrag für ein neues Misstrauensvotum gegen den Regierungschef ein und verlangte eine Änderung der Parteiregularien, die nach dem kürzlich von Johnson überstandenen Misstrauensvotum einen weiteren solchen Schritt für ein Jahr ausschließen. Skidmore forderte das sogenannte "Komitee 1922" der Torys auf, sich dringend mit einer Anpassung des Regelwerks zu beschäftigen. Das Gremium ist für Misstrauensvoten innerhalb der konservativen Partei zuständig. Johnson hatte die Vertrauensabstimmung Anfang Juni überstanden, nachdem er wegen Verstößen gegen Kontaktbeschränkungen zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie in Ungnade gefallen war.

Ein Misstrauensvotum gegen Johnson ist laut dem Bericht eines Sky-Reporters noch am Mittwoch möglich. Die Parteiregeln, die eine Vertrauensabstimmung vorerst ausschließen, würden wahrscheinlich am Nachmittag geändert, schreibt der Journalist Tom Larkin auf Twitter unter Berufung auf einen Vertreter des "Komitee 1922". Das Gremium tritt am Mittwochnachmittag zusammen, wie ein Vertreter des Komitees der Nachrichtenagentur Reuters sagte. Allerdings hielte es der Vertreter für besser, wenn hochrangige Minister Johnson zum Rücktritt bewegen würden, sagte er.

"Times" titelte mit "Game over"

Gleich mehrere Blätter hatten am Mittwoch berichtet, dass Johnson nach knapp drei Jahren Amtszeit am Abgrund stehe. Selbst für den krisenerprobten Johnson werde es schwierig, aus dieser Situation heil herauszukommen, schrieb die "Daily Mail". Die konservative "Times" forderte in ihrem Leitartikel den Premierminister auf, zum Wohle des Landes zurückzutreten – "Game over", das Spiel sei aus. "Jeder Tag, den er im Amt bleibt, verstärkt das Chaos", so die "Times". Johnson habe keine Autorität mehr. (APA, Reuters, red, 6.7.2022)