
Oppositionelle hat das Regime von Einiges Russland permanent am Schirm: der inhaftierte Alexej Nawalny während einer Anhörung im Jänner.
Bürgerinnen und Bürger der Russischen Föderation müssen, nicht viel anders als Josef K. aus Kafkas Der Prozess, täglich mit dem Schlimmsten rechnen. Unaufhörlich produziert die Duma – als gewähltes gesetzgebendes Organ – Verordnungen und Erlässe. Putins Russland ahndet nicht nur "Gesetzesübertretungen". Seine Organe stellen permanent unpatriotisches Verhalten unter Strafe. Sicherheitshalber erfinden die Behörden die Übertretungen, deren sie andere bezichtigen, gleich selbst.
Unwissenheit schützt keineswegs vor Strafe. Wie Autorin Irina Rastorgueva in ihrem faktenreichen Reader Das Russlandsimulakrum mit bestürzender Deutlichkeit offenlegt, weben Putin und seine Parteigänger von Einiges Russland unaufhörlich am Netz der Diktatur. Betrieben wird die Fortsetzung des Sowjetsozialismus mit geringfügig modernisierten Mitteln.
Immer enger werden die Maschen geknüpft. Der Umbau einer maroden Demokratie in einen totalitären, kriegführenden Staat schreitet rapide voran. Die Russinnen und Russen, abgespeist mit den Brosamen einer auf alte "Größe" geeichten Staatsideologie, regredieren zusehends. Sie schlüpfen zurück in die Rolle des "Homosos", Abkürzung für "Homo sovieticus". Dieser war es leidvoll gewohnt, unter schlechten Bedingungen dahinzuvegetieren. Nun lässt er sich achselzuckend von Putin und Co über die Herrlichkeit Russlands belehren.
Wo sich das Pflänzlein des Widerstands regt, wo (zumeist jüngere) Bürger gegen den Ukraine-Krieg aufmucken, wird geprügelt, werden Unbescholtene hinter Gitter gesteckt. Man greift selbst unbeteiligte Passanten unsanft auf und interniert sie über Wochen oder Monate. Es sind die Mitglieder des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB), die über die ihnen genehme Zusammensetzung des Straßenbildes bestimmen. Selbst Memes im Internet werden unbarmherzig abgeklopft – daraufhin, ob sie zu "extremistischen Aktivitäten" verleiten oder die "Integrität der Russländischen Föderation verletzen".
Bewährte Regie
In diesem konzertierten Geschehen nehmen sich aktuelle Repressionen wie die gegen das Gogol-Zentrum, die vielleicht wichtigste Bühne des Landes, wie Episoden aus. Die Schließung des Theaters durch die Moskauer Stadtverwaltung folgt dem bewährten Regiebuch. Putin gebietet, wie Rastorgueva darlegt, über einen mannigfaltigen Repressionsapparat. Wer strafrechtlich nicht belangbar ist, kann dennoch im Handumdrehen zum "Staatsverräter" erklärt werden. Es reicht, Informationen weiterzugeben, die ohnehin allgemein zugänglich sind. Putin nennt solche Täter, die gar keine sind, "Staatsverräter". Verräter am eigenen Volk müssen strengstens bestraft werden.
Es gibt im heutigen Russland Gesetze, die die Größe von Pilzköpfen regeln. Pilze mit Köpfchen, die einen Durchmesser von weniger als eineinhalb Zentimetern haben, darf man nicht pflücken. Umgekehrt werden in den Staatsmedien die Zeugnisse von Misswirtschaft und Korruption absurd verschleiert. So verwendet man das Wort "Klatsch" ("khlopok") anstelle von "Explosion". Zeitungen gleichen poetischen Erzeugnissen: "Es gab ein Gasklatschen in einem Haus." Stürzt ein Flugzeug ab, ist es "hart gelandet". "Überschwemmungen"? Gibt es nicht, an ihrer statt herrscht "Grundhochwasser". Halb Sibirien steht in Flammen? Es hat sich lediglich ein "Wärmefleck" gebildet.
In dieser Alltagswelt von Agonie und Aggression muss man den verabscheuungswürdigen Angriff auf die Ukraine als logische Fortsetzung verstehen. Alle unabhängigen Medien sind seit 24. Februar blockiert; Facebook und Twitter sind gesperrt, alle Oppositionsführer wie Alexej Nawalny entweder verhaftet oder gezwungen, ins Ausland zu gehen. Wer in Putins nekrologischem Riesenreich über die Lage in der Ukraine berichtet, riskiert eine Strafe von drei bis 15 (!) Jahren Gefängnis.
Gleichschaltung
Die Gleichschaltung von Russland ist, wie Rastorgueva darlegt, eine totenkulturelle Staatsmission. Krieg wird zum "natürlichen Zustand eines toten Landes". Der Angriff auf die Ukraine ist nichts anderes als die Fortsetzung des "Großen Vaterländischen Krieges". Dieser darf, weil Putin seine Utopie ausschließlich in der Vergangenheit verwirklicht sieht, nie zu Ende gehen. Die Kultur hilft mit beim Aufbau eines Gefängnisses, das so groß ist wie Russland selbst. Im November 2021 vermeldete eine Lokalzeitung stolz: Der Föderale Strafvollzugsdienst von Krasnojarsk habe ein Ballett veranstaltet, einen Walzer mit Gefangenentransportwagen. Die Lkws hätten Pirouetten gedreht, "die in ihrer Schönheit und Komplexität unvorstellbar waren". (Ronald Pohl, 7.7.2022)