Tatjana Maria war schon mehrmals abgeschrieben, doch die zweifache Mutter hat Nehmerinnenqualitäten.

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Beim Interview unmittelbar nach ihrem Erfolg war Maria noch immer von Emotionen überwältigt.

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Als Jule Niemeier den entscheidenden Matchball nach 2:18 Stunden Spielzeit nicht abwehren konnte, sorgte das bei Tatjana Maria für ungläubiges Kopfschütteln. Sie ließ ihren Schläger fallen und brauchte vermutlich selbst einige Augenblicke, um zu realisieren, was sie erreicht hatte: das Wimbledon-Semifinale, den mit Abstand größten Erfolg ihrer Karriere. Eine Karriere, die nicht wirklich im Rampenlicht der großen Tenniswelt stattfand.

Im anschließenden Fieldinterview sprach sie von Gänsehaut. Stotternd bedankte sich die 34-Jährige bei den Menschen, ohne die ihr Erfolg nicht möglich gewesen wäre: bei ihrer Box, ihrer Familie. Maria ist Mutter zweier Töchter und ordnet das auch deutlich über ihrer Karriere ein. "Das Wichtigste in meinem Leben ist es, Mutter meiner Kinder zu sein. Daran wird auch das Semifinale im dritten Grand-Slam-Turnier des Jahres nichts ändern." Sie werde auch weiterhin Windeln wechseln und versuchen, so normal wie möglich zu sein.

Wimbledon

Normalität ist etwas, das in der Sportlandschaft, die von Extravaganz und Allüren bestimmt ist, selten vorkommt. Vielleicht fliegen der Schwäbin auch gerade deshalb die Herzen der Fans zu. Selbstverständlich ist sie nebenbei auch eine großartige Spielerin. Über ihre lange Karriere hinweg schaffte es Maria, sich einen variantenreichen und unorthodoxen Stil anzueignen. Ihr Markenzeichen ist der Vorhand-Slice – das sind Bälle mit viel Unterschnitt. Besonders geeignet dafür ist der Platz in Wimbledon: "Der Rasen passt sehr gut zu meinem Spiel. Ich werde mit meinem Vorhand-Slice weiterspielen. Umso besser, wenn es funktioniert."

Rückhandwechsel

In relativ hohem Alter wechselte sie – auf Anraten ihres Trainers und Mannes Charles Maria, einem Franzosen – ihre Rückhand vom zwei- zum einhändigen Spiel. Häufig ist "Tadde" nah am Netz zu finden, der siebenmalige Grand-Slam-Sieger Mats Wilander attestiert ihr "komplettes Spiel". Darüber hinaus ist sie abgeklärt und mental gefestigt, Satzverluste wie im Viertelfinale bringen sie nicht aus der Ruhe, in der ja bekanntermaßen die Kraft liegen soll.

Die sportliche Abgeklärtheit weckt Erinnerungen an Kim Clijsters. Die Belgierin schaffte es nach ihrem Rücktritt vom Rücktritt nach der Geburt ihrer Tochter sogar zu zwei Grand-Slam-Titeln. Ihren Kritikern warf Maria vor, sie schon abgeschrieben zu haben: "Es gab viele Leute, die glaubten, dass ich nicht mehr zurückkomme." Diese Kritiker konnte sie nun Lügen strafen: "Ich habe die Top 50 mit Charlotte erreicht, und jetzt bin ich nach dem zweiten Kind wieder zurückgekommen. Ein bisschen ist es zu meinem Leben geworden, den Leuten zu zeigen, dass ich noch da bin, kämpfe, weitermache und träume. Das möchte ich auch meinen Kindern zeigen." In der Weltrangliste kann sich die aktuelle Nummer 106 mit ihrem Semifinal-Einzug nicht verbessern. Für das Turnier in London werden, aufgrund des Ausschlusses russischer Spielerinnen und Spieler, keine Punkte vergeben.

Maria hat Nehmerinnenqualitäten, kann sowohl verbal als auch sportlich einstecken. Schon vor 14 Jahren schaffte sie nach einer Thrombose mit anschließender Lungenembolie ein Comeback. Energie tankt sie bei der Familie. Früh um 8.30 Uhr gibt sie der achtjährigen Charlotte Unterricht. Im April des Vorjahres kam Cecilia in die Familie, sie dient noch nicht als Glücksbringerin am Court. Mutter Maria wird gerne als bodenständig, unkompliziert und umgänglich umschrieben. Der Eindruck festigte sich auch im Zeitpunkt ihres größten Triumphs.

Freundin wartet

Sie selbst stammt aus einer Sportfamilie, der Vater spielte Handball für die polnische Nationalmannschaft. Nach ihrem Erfolg im dritten deutsch-deutschen Damen-Viertelfinale der Grand-Slam-Geschichte darf sich Maria Hoffnung machen, ihre Erfolgsgeschichte weiterzuschreiben. Im Semifinale wartet allerdings die Nummer drei, ihre gute Freundin Ons Jabeur.

Das Schönste am Semifinale sei Charlottes Freude über den längeren Aufenthalt in London. So lässt sich Familie und Karriere noch einfacher miteinander verbinden. (Jens Wohlgemuth, 6.7.2022)