"Der Beschuss von Städten wie Krementschuk bestärkt die Gesellschaft in der Meinung, dass die Fortsetzung des Kampfes absolut notwendig ist", sagt der Politologe Wolodymyr Fessenko.

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Gut 130 Tage nach Beginn der großen russischen Invasion prägen gemischte Gefühle die Stimmung in der Ukraine: Zwar musste die Armee Sjewjerodonezk und Lyssytschansk – die letzten großen Städte des Bezirks Luhansk – aufgeben. Doch die Russen mussten sich dafür von der strategisch wichtigen Schlangeninsel im Schwarzen Meer verabschieden. Auch im größtenteils besetzten südlichen Bezirk Cherson gibt es kleine, vorerst noch wenig erfolgreiche ukrainische Gegenoffensiven. Und natürlich erschüttern Tragödien wie die Zerstörung eines Einkaufszentrums in Krementschuk mit mehr als 20 Toten durch eine russische Rakete die Bevölkerung.

Längst herrscht ein Abnutzungskrieg – mit hohen Verlusten auf beiden Seiten. Nicht zuletzt deswegen wollen die Russen nach den Kämpfen um Sjewjerodonezk und Lyssytschansk auf Befehl ihres Präsidenten Wladimir Putin hin eine "operative Pause" einlegen.

Gesellschaft bestärkt

Doch die ukrainische Gesellschaft zeigt sich weiter geeint und positiv. "Natürlich existiert eine gewisse Kriegsmüdigkeit oder anders gesagt: eine Gewöhnung an den Krieg", erklärt der Politologe Wolodymyr Fessenko. "Der Beschuss von Städten wie Krementschuk bestärkt die Gesellschaft in der Meinung, dass die Fortsetzung des Kampfes absolut notwendig ist. Das ist das Gegenteil dessen, was die Russen erreichen wollen."

Jedoch glaubt Fessenko, der das Penta-Zentrum für angewandte politische Forschung leitet und Präsident Wolodymyr Selenskyj nahesteht, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer noch nicht ganz realisieren, wie lange der Krieg wirklich dauern könnte: "Es gibt Menschen, die an ein Kriegsende in zwei, drei Monaten glauben. Das ist im Moment wenig realistisch", meint er im Gespräch mit dem STANDARD. "Die Offiziellen sprechen meist vom Jahresende. Am realistischsten ist aber die Einschätzung, dass bis dahin zwar die aktive Phase vorbei sein könnte, der Positionskrieg jedoch vermutlich nicht."

Anfängliche Illusionen

Ljudmyla Subryzka, Politologin an der renommierten Kiew-Mohyla-Akademie, sieht das anders. "Es gab am Anfang Illusionen – nicht zuletzt deswegen, weil die offiziellen Kommentatoren lange von zwei oder drei Wochen bis Kriegsende sprachen. Das ist mit der Zeit sogar zu einem geflügelten Wort geworden", sagt Subryzka. "Die Menschen haben nun aber akzeptiert, dass es möglicherweise sehr lange dauern wird."

Aus ihrer Sicht haben sich die für die Menschen akzeptablen Minimalziele verändert: "Als die Russen vor Kiew standen, haben die Menschen die Rückkehr zum faktischen Status quo vom 23. Februar für okay gehalten. Nun will man aber das gesamte besetzte Gebiet zurück. Tragödien wie Krementschuk oder die Zerstörung eines Wohngebäudes im Bezirk Odessa verstärken diese Stimmung."

Aktuelle Umfragen zeigten allesamt, dass mehr als 80 Prozent jegliche territorialen Zugeständnisse ablehnen – was allerdings nicht automatisch die militärische Rückeroberung bedeutet.

Unterschiedliche Erwartungen

Fessenko hält, anders als Subryzka, die Rückkehr zur Ausgangslage vom 23. Februar für Gesellschaftskonsens. Natürlich gebe es in Bezug auf die von Russland annektierte Krim unterschiedliche Erwartungshaltungen. "Ich glaube aber, dass sie sich mit der Zeit immer mehr abmildern werden. Wir wissen ja nicht, wie gut die militärische Hilfe weiter ankommen wird, wann die große ukrainische Gegenoffensive wirklich kommt – oder ob sie überhaupt kommt."

Insgesamt entsteht in der Ukraine der Eindruck, dass der Status quo vor der großen Invasion als "Mindestsieg" gilt – es sind jedoch auch weiterhin sehr unterschiedliche Positionen zu hören. "Der Sieg wäre ausschließlich die Rückeroberung aller besetzten Gebiete – inklusive der Krim", meint etwa die Journalistin Marjana Metelska aus dem westukrainischen Luzk. "Der Krieg könnte Ende dieses Jahres oder in der ersten Hälfte 2023 vorbei sein." Ihr Kollege Roman Sintschuk aus Riwne, ebenfalls Westukraine, ist weniger optimistisch: "Wir würden dann gewinnen, wenn wir erfolgreich eine Verteidigungslinie aufbauen, die die Russen nicht durchbrechen können. Das ist bisher nicht der Fall."

Dmytro Prysiwok, Lehrer aus der östlichen Region Poltawa, wo auch die Industriestadt Krementschuk liegt, betont hingegen: "Der Minimalsieg wäre, die Russen aus allen Bezirken zu vertreiben – mit Ausnahme der Krim." Der Raketenbeschuss mache Kompromisse oder ein Aufgeben undenkbar.

In jedem Fall, auch darauf weisen die Umfragen hin, blickt man in der Ukraine – abgesehen vom Krieg – optimistischer als vor dem 24. Februar in die Zukunft: Laut dem Kiewer Internationalen Soziologie-Institut spüren 52 Prozent der Menschen für die Zukunft großen Optimismus. Im Dezember 2021 lag dieser Wert noch bei mageren neun Prozent. (Denis Trubetskoy aus Kiew, 7.7.2022)