Clara Frühstück und Oliver Welter.

Foto: Ingo Pertramer

"Im Dunkeln wird mir wohler sein": Mit knapp 200 Jahren auf dem Buckel zählt die Winterreise von Franz Schubert und den Texten von Wilhelm Müller neben Unknown Pleasures von Joy Division, Dummy von Portishead, I See a Darkness von Bonnie "Prince" Billy oder den Singles der Shangri-Las zu den großen alten Schlachtschiffen der Niedergeschlagenheit, Lebensmüdigkeit und Saddest Endings.

Bezüglich der speziell in der Zeit der Romantik und später dann so intensiv nur noch von jammernden Backstreet-Boy-Bands arg strapazierten Liebe, Liebe, Liebe und Verzweiflung kann kaum ein Nachgeborener Schubert das Taschentuch reichen. 1822 schrieb der Komponist in Mein Traum: "Wollte ich Liebe singen, ward sie mir zum Schmerz. Und wollte ich wieder Schmerz nur singen, ward er mir zur Liebe."

Bis heute wurden für die ursprünglich für "piano forte" und mit "grande dolore" geschriebenen Untergangsschlager beinahe sämtliche interpretatorischen Möglichkeiten ausgeschöpft. Vom Knödelbariton Dietrich Fischer-Dieskaus über Am Brunnen vor dem Tore als performativ-getanzter Möglichkeitsraum, der Winterreise als Brettspiel, einer Vertonung in Gebärdensprache oder einer chinesischen Rockversion ist alles schon da gewesen. Immerhin erleichtert die repetitive Liedform Schuberts als allerersten Popkomponisten den Zugang.

Clara Frühstück

Die klassische Konzertpianistin Clara Frühstück und der von den heimischen Pop-Schwermelancholikern Naked Lunch bekannte Gitarrist und Sänger Oliver Welter legen nach umjubelten Konzerten die Winterreise nun als CD-Version vor, die trotz des sattsam bekannten Materials zwingend klingt. Erstens wird klar, dass diese Stücke nicht unbedingt für ausgebildete Sänger geschrieben wurden. Näher am Volks- statt am Kunstlied kann Oliver Welter mit am Limit kippender und brechender Stimme kaum sein. Das erhöht den Intensitätsgrad und Erschütterungsfaktor ungemein.

Clara Frühstück

Zweitens darf man sich Stücken wie dem Leiermann oder der Letzten Hoffnung keinesfalls ehrfürchtig und mit Konzerthaus-Abonnement nähern. Man hört eine ruppig-klirrende elektrische Gitarre. Tief im Hallraum verbreitet sich Welters Verzweiflung. Mit düsteren Synthesizerklängen und einem tröpfchenweise letztes Herzblut vergießenden Klavier wird moderne Zeitgenossenschaft geschaffen. Sie räumt dem Pathos und der in vielen Interpretationen aufgesetzten Schwülstigkeit das sprichwörtliche Heu herunter: "Eine Straße muss ich gehen, die noch keiner ging zurück."

Ein großes Album. Dagegen hören sich die frühen Songs von Nick Cave beinahe wie die größten Sommerhits aller Zeiten an. (Christian Schachinger, 7.7.2022)