Im Gastblog zeigt die langjährige AHS-Direktorin Heidi Schrodt, welche Probleme in Bezug auf Chancengleichheit im Schulwesen dringend von der Politik behoben werden sollten. 

Für die Schülerinnen und Schüler in Wien, Niederösterreich und im Burgenland haben die Schulferien schon begonnen. Für die westlichen Bundesländer ist es Ende dieser Woche so weit. Zweieinhalb Jahre nach Beginn der Pandemie sind die Herausforderungen so groß wie in Jahrzehnten zuvor noch nie. Und es ist nicht nur die Pandemie. Der Krieg in der Ukraine, die Energiekrise, die steigende Inflation sowie eine wachsende Armutsgefährdung sind auch in unseren Bildungseinrichtungen angekommen – in den Kindergärten ebenso wie in den Schulen.

Fehlende politische Maßnahmen

Bildungsminister Martin Polaschek (ÖVP) war dazu am 29.6.2022 in der Zib2 zu Gast. Bei allem Verständnis für die schwierige Ausgangssituation muss leider gesagt werden: Dieses Interview war desaströs. Was immer er gefragt wurde, seine Antwort war: "Das müsse man sich anschauen." Luftfilter oder CO2-Messgeräte in den Klassen, der eklatante Lehrer- und Lehrerinnenmangel, 16 Prozent der Volksschulkinder mit Nachhilfe, oder die Frage nach Ziffernnoten in der Volksschule: Antworten blieb uns der Bildungsminister schuldig, selbst kurzfristige Maßnahmen wurden nicht genannt – mit einer Ausnahme: Man werde es sich anschauen. Mittel- oder sogar längerfristige Maßnahmen werden ohnehin schon länger nicht mehr diskutiert, und im aktuellen Regierungsprogramm fehlt im dünnen Bildungsteil jegliche Zukunftsperspektive.

Bildung weiterhin durch soziale Stellung bestimmt

So kann und darf das nicht weitergehen. Eine aktuelle Studie von Forscherinnen und Forschern der Universität Wien hat sich mit der Frage beschäftigt, ob es dem Bildungssystem gelingt, eine Benachteiligung nach Herkunft zu vermeiden. Untersucht wurde, wie viele und welche Schülerinnen und Schüler nach der ehemaligen Neuen Mittelschule in Wien in eine Schule mit Matura wechseln. Dazu wurde fünf Jahre lang eine gleichbleibende Gruppe von Schülerinnen und Schülern befragt.

Der Befund ist ernüchternd. Zwar wechseln 31 Prozent in eine Berufsbildende Höhere Schule und elf Prozent in eine Allgemeinbildende Höhere Schule (AHS), doch handelt es sich dabei vor allem um Kinder von Eltern mit Hochschulabschlüssen ohne Migrationshintergrund.

Die seit vielen Jahren bekannte Bildungsungerechtigkeit in Österreich wurde wieder einmal bestätigt. Selbst bei gleichen Schulnoten haben Kinder aus Akademikerfamilien erheblich größere Chancen, in eine AHS zu gelangen als Kinder, deren Eltern einen Pflichtschulabschluss oder gar keinen Schulabschluss haben. Diese unerfreuliche Tatsache wurde in dieser Studie wieder einmal bestätigt. Herkunft bestimmt hierzulande Zukunft wie in kaum einem vergleichbaren Land.

Wer nach Ende der Ferien in welcher Schulart sitzt, hängt stark von der sozialen Herkunft ab.
imago images/STPP

Es ist eine der vielen Baustellen in unserem Bildungssystem, aber die größte mit besonders langfristigen Auswirkungen. Die Pandemie hat zwar bewirkt, dass die Schere noch weiter auseinander gegangen ist, doch waren die Unterschiede schon davor erschreckend hoch, wie wir aus zahlreichen Untersuchungen, insbesondere den Bildungsstandardtestungen 2013 und 2018, wissen.

So wechseln etwa Kinder mit gleicher Mathematik-Kompetenz mehr als doppelt so oft auf ein Gymnasium, wenn sie aus Akademikerfamilien kommen (zu 58 Prozent) im Unterschied zu Kindern, deren Eltern maximal Pflichtschulabschluss haben (zu 24 Prozent). Wir wissen das, und dennoch wurde über die Jahre hinweg wenig oder nichts unternommen, um diese bildungspolitische Schande zu bekämpfen. Als Zielsetzung in einem Regierungsprogramm ist mir die Beseitigung der eklatanten Bildungsungerechtigkeit jedenfalls nicht bekannt – im Gegensatz zu Finnland, wo als oberstes Prinzip benannt wird: "Kein Kind wird zurückgelassen."

Defizite nicht nur vorhanden, sondern auch bekannt

Der Abstand zwischen herkunftsmäßig privilegierten Kindern und Kindern aus ökonomisch schwachen, bildungsfernen Familien tritt ganz früh im Bildungssystem zutage, nämlich bereits im Kindergarten, und setzt sich in der weiteren Bildungslaufbahn fort. Die Ursachen sind bekannt: früh angelegte Selektion, Halbtagssysteme, eine Schulfinanzierung, die Ungleichheit fördert, ein Unterricht, der viel zu wenig auf Individualisierung ausgerichtet ist, eine unter vergleichbaren Ländern erschreckend niedrige Zahl an Unterstützungspersonal in den Bereichen von etwa Schulsozialarbeit, Förderlehrekräften, Sprachförderlehrkräften und Schulpsychologie. Tausenden Schülerinnen und Schülern steht beispielsweise hierzulande nur eine schulpsychologische Fachkraft gegenüber.

Diskussion über Parteien hinweg dringend nötig

Nicht nur die Ursachen für die zahlreichen Probleme in unserem Bildungssystem sind bekannt, sondern auch das Wissen, wie und wo anzusetzen wäre, um diese Missstände zu beheben, ist vorhanden. Der politische Wille, Änderungen in Angriff zu nehmen, ist leider nicht auszumachen. Im Gegenteil: Eine Systemdiskussion wolle er nicht, betonte der Bildungsminister in aktuellen Interviews. Das ist nicht länger zu verantworten.

Wir brauchen genau diese Systemdiskussion, die parteiübergreifend zu führen ist und die alle wichtigen Stakeholder im Bildungssystem einbezieht. Weiter zuzuwarten wäre höchst verantwortungslos. Für uns alle. Für die Zukunft unseres Landes. (Heidi Schrodt, 8.7.2022)

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