"Das Wienerlied ist ein Lied aus, über und für Wien", wusste Harry Zohn, der austroamerikanischer Essayist und Übersetzer ins Englische war. Es ist immer ein bisserl gemütlich, stets ein Äutserl humorvoll, nicht selten spöttisch und gfeanzt – und in geschätzt 7/8 der Fälle weinselig. Dem Tode zugewandt ist es natürlich auch, allerdings nicht so oft, wie man gemeinhin denkt, öfter geben die Texte Lebensratschläge für ein hoffnungslos "potschertes Leben".

Über 5.000 dieser Lieder sollen Gerhard Bronner und Peter Wehle geschrieben haben, die Wiener Mundartdichterin Trude Marzik ("Mei Bua") schrieb ihrerseits ungezählte Texte für ebenso viele Musiker und Musikerinnen. Horst Chmela brachte sein "Ana hat immer des Bummerl" in ein Ehrengrab am Zenträu, und mit zunächst Kurti Ostbahn, später beispielsweise Ernst Molden und nun Voodoo Jürgens oder dem Nino aus Wien wird die Tradition des Wienerliedes nicht nur lebendig gehalten, sondern erreicht sogar wieder neues Publikum. Bis hinauf nach Berlin, wo man uns sowieso um unsere Sprache und das "Einwendige" beneidet.

In Wien zählen Interpretinnen und Interpreten wie Christl Prager, Kurtl Strohmer oder das Hans-Ecker-Trio zu den Stars, die im "Alten Haus" im vorstädtischen Jedlersdorf ebenso auftreten wie im noblen Innenstadtcafé Prückel. Wer nicht mehr so gern die Patschen auszieht, um sich draußen einen Spritzer hineinzustess'n, der hört sich Sonntagfrüh zu Hause das Radiowienerlied an, wo Erich und Marion Zib abwechselnd mit dem Crazy Joe auch Musikwünsche erfüllen. Und wer dann doch wieder Gusto kriegt, hinauszugehen, der bucht auf deren Website eine DDSG-Wienerlieder-Schifffahrt auf der Donau, wo er wiederum CDs kaufen kann. Schlecht? Sicher nicht! Zumal Radio Wien als einziger Regionalsender des ORF schon längst keine Regionalmusik mehr sendet.

Johannes Gisser beim Auftritt im Martinsschlössl.
Foto: Christian Fischer

Das Wienerlied in die Wiege gelegt

Auch das Martinsschlössl im 18. Wiener Gemeindebezirk ist so ein Ort, an dem das Erbe des Wienerliedes gepflegt wird. Hinein durch das Tor, vorbei an den Häus'ln, und schon ist man hinten im dunkel getäfelten Saal. Dort macht sich Johannes Gisser, erster Bass-Mitglied des Wiener Staatsopernchors seit 25 Jahren, für seinen Auftritt bereit. Gisser ist Wiener aus Rodaun und dort mit dem Wienerlied aufgewachsen: "Der Vater war Bass-Solist im Rodauner Kirchenchor, leitete aber auch einen Chor, in dem Wienerlieder gesungen wurden."

Samstagabend und Sonntagfrüh kam obendrein der Heinzi Conrads zu ihnen ins Wohnzimmer, mal durchs Radio, mal durch den Fernseher: "Ich waaß aa net warum", sagt Gisser in schönstem Wienerisch, "aber die Stücke, die er gesungen hat, haben mich fasziniert. Ob das "Der Wurschtl" war oder "Der Mann mit dem schwarzen Bart" oder "Von was leben die Leut?" – das waren Lieder, die hab ich mir gemerkt." Andere sind vorm Conrads davongerannt, er aber hat sich auch die Gedichte der Trude Marzik angehört, ihreszeichens Wiener Mundartdichterin von Weltrang und Textlieferantin zahlloser Interpreten und Musikerinnen.

Walzer, Polka und die Staatsoper

Gisser kommt eigentlich vom Klavierspielen, er lernte das Instrument bis nahe an die Perfektion. Der Traum seiner Mutter freilich war, dass, sollte sie mal einen Buben kriegen, dieser Sängerknabe werden solle, und diesen Traum erfüllte der Bub ihr gerne: "Da haben wir auch Walzer und Polkas gesungen", also Wienerisches, und auch später am Musikgymnasium und noch später an der Uni ließ es ihn nicht mehr los. Trotzdem wäre er vermutlich auf ewig Erster Bass im Staatsopernchor geblieben, wenn ihn nicht zu Beginn der Lockdowns vor ziemlich genau zwei Jahren die Langeweile überkommen hätte: "Mir war so fad, ich fühlte mich künstlerisch unterfordert."

Foto: Christian Fischer

Also nahm er Wienerlieder auf und stellte sie – wie die Jungen – ins Netz, was – auch bei den Älteren – gut ankam. So gut, dass ihn irgendwann einer fragte: "Wie wär's, wenn du das auf die Bühne bringst?"

Gefragt, getan. Und Gast Helmut Aschan, 75 und früher, so sagt er, selbst für zehn Jahre Sänger bei zahlreichen Heurigen – "Beim Reinprecht! Beim Maly! Beim Berger!" –, singt gleich mit, als Gisser "Schön is so a Ringelgspü" anstimmt, "ein Klassiker vom Hermann Leopoldi, der ja Gott sei Dank den Krieg überlebt hat" und danach noch anderes vertonte: "Am besten hat's ein Fixangestellter" oder "I bin a stiller Zecher". "Allesamt Granaten!", sagt Gisser, und doch nur einige von insgesamt ca. 74.000 registrierten Wienerliedern.

Mit "Von wos leben die Leut?" geht es weiter, und "Der Überzieher" handelt dann nicht vom Leben eines hochverschuldeten Häuslbauers, der von seiner Bank nichts mehr kriegt, sondern von einem, der seinen Überzieher an den Wirtshaushaken hängt und fürchtet, dass er ihm gestohlen wird. Spätestens mit "Die Blunz'n und die Leberwurscht", der tragischen Liebesgeschichte zweier Würschtln, hat Gisser sein Publikum fest im Griff.

Nahe an der Wahrheit dran

Auch Thomas, der mit 54 Jahren einer der jüngeren Gäste ist, aber nicht weniger begeistert als die Dame mit blonder Betonfrisur hinter ihm: Sein Vater war selbst Opernsänger, er ist also aufgewachsen "mit Einsingen des Vaters in der Früh ab 7 Uhr, da waren die Lieder verschiedenst, von Freddy Quinn bis zum Fiakerlied." Das Wienerlied rührt ihn, "weil es so nahe am Leben und der Wahrheit ist. Auch ein bisserl eine Endzeitstimmung ist in jedem Wienerlied dabei." Also sind wir angesichts der aktuellen Weltlage vielleicht hier eh ganz richtig.

Dazu passend singt Gisser gleich "Der Wurschtl", die Geschichte von einem, der nach dem Krieg im Prater spazieren geht und sich an seine Kindheit erinnert, mit dem Vater und dem Wurschtl, den keiner derschlagen kann. "Man kann nur hoffen", sagt Gisser, "dass der ukrainische Präsident, der auch mal Clown war, alles überlebt." Mit einem Gedicht von Trude Marzik und "Rabapzibap" aus der Werkstatt Wehle/Bronner, das eine wirklich schwere Übung für jede Zunge ist, geht es in die Pause.

Das Publikum im Martinsschlössl.
Foto: Christian Fischer

"Das Pubikum nimmt zu", hat Gisser das Gefühl, und die Freude am Singen bei ihm mit jedem Lied: "Ich war immer Wiener", lacht er, "bis auf eineinhalb Jahre, die ich in St. Pölten gelebt hab." Der Wiener Heurige als Auftrittsort für seinen Vortrag reizt ihn aber trotzdem nicht: "Ich halte die Texte der Wienerlieder für so gut, dass sie nicht neben dem Gelächter und auch mal Gegröle der Spritzertrinker als Hintergrundmusik absaufen sollen." Nicht zuletzt wegen dieser Texte also weiß Gisser, dass nicht nur ein Wein sein wird, wenn er selbst nicht mehr sein wird, sondern selbstverständlich auch noch das Wienerlied. (Manfred Rebhandl, 7.7.2022)