Boris Johnson hat das Vertrauen seiner Fraktion verloren und kündigte am Donnerstag seinen Rücktritt an.

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Tags zuvor hatte Boris Johnson noch großspurig verkündet, er werde "selbstverständlich" auch nächste Woche noch britischer Premierminister sein. Am Donnerstag um 12.33 Uhr Ortszeit musste der hochumstrittene Politiker einräumen: Seine Zeit in der Downing Street Nummer zehn läuft ab. Weil dies dem "Willen der konservativen Parlamentsfraktion" entspreche, trat der 58-Jährige vom Amt des Parteichefs zurück. Premier bleibe er nur so lange, bis die Nachfolgerin oder der Nachfolger benannt sei: "Niemand ist im Entferntesten unabkömmlich."

Frage: Warum war die Entscheidung unausweichlich?

Antwort: Kurz gesagt: Weil Johnson das Vertrauen seiner Fraktion verloren hatte. Am Dienstagabend traten die beiden Ressortchefs für Gesundheit und Finanzen, Sajid Javid und Rishi Sunak, zurück. Beide machten deutlich, dass dabei die Person und das Regierungshandeln des Chefs die Hauptgründe waren. Die Demission der beiden Schwergewichte öffnete die Fluttore. Immer mehr Ministerinnen und Staatssekretäre schlossen sich am Mittwoch der Flucht aus der Regentschaft des Premierministers an.

Nach mehreren Stunden im Parlament, in denen sich keine Stimme zu seiner Verteidigung erhob, fand der Premier in der Downing Street eine Reihe seiner Kabinettsmitglieder vor. Während die Ultraloyalisten Nadine Dorries (Kultur) und Jacob Rees-Mogg (Brexit), dem Chef den Rücken zu stärken versuchten, riet ihm ein halbes Dutzend anderer zum selbstbestimmten Abgang. Dazu gehörte auch der frisch berufene Schatzkanzler Nadhim Zahawi – abends zuvor hatte der 55-Jährige Johnson noch mit Rücktritt von seinem bisherigen Amt als Bildungsminister gedroht, falls er nicht zum Finanzressortchef ernannt werde. Da ließ die TV-Serie "House of Cards" grüßen.

Finstere Machenschaften werden stets auch Michael Gove unterstellt, einem der klügsten Tories und kompetentesten Minister. Als Weggefährte Johnsons hatte der gebürtige Schotte 2016 den Brexit bewerkstelligt, im Kampf um die Nachfolge von Premier David Cameron zunächst die Kandidatur des charismatischen Blondschopfs unterstützt, diesen jedoch später als "charakterlich nicht geeignet" bezeichnet. Dafür nahm Johnson am Mittwoch späte Rache: Eine Minute vor Ablauf der Frist, die Gove ihm für seinen Rücktritt gesetzt hatte, feuerte er den abtrünnigen Minister per Telefon, ließ ihn anschließend in Pressebriefings als "Schlange" denunzieren.

Über Nacht nahm der Druck auf den Premierminister zu. Am Donnerstagmorgen reichten weitere, bis dahin loyale Minister ihren Rücktritt ein, darunter auch die neue Bildungschefin Michelle Donelan. Nach einem Gespräch mit dem Sprecher der konservativen Hinterbänkler fügte sich der 58-Jährige in das Unausweichliche.

Frage: Gehen die Tory-Dramen des vergangenen Jahrzehnts weiter?

Antwort: Wer Johnsons Rücktrittsankündigung genau zuhörte, muss dies befürchten. Die Entscheidung der Fraktion nannte er "exzentrisch", beschuldigte die Parlamentarier der "Herdenmentalität". Mit keinem Wort ging der Noch-Premier auf die Zweifel an seiner Integrität ein; zu Wochenbeginn waren Johnson und seine Büchsenspanner in der Affäre um die sexuellen Belästigungen eines engen Vertrauten bei einer glatten Lüge erwischt worden. Stattdessen brüstete sich Johnson mit echten oder vermeintlichen Erfolgen, verwies vor allem auf den großen konservativen Wahlsieg im Dezember 2019.

Dass er das damalige Ergebnis am Mittwoch im Unterhaus mehrfach als persönliches Mandat bezeichnete, hat viele Kollegen misstrauisch gemacht. Plante "Mini-Trump" Johnson einen Coup, beispielsweise indem er die Queen um Auflösung des Unterhauses und Neuwahlen bitten würde? Allein die Möglichkeit ließ Verfassungsexperten hyperventilieren.

Am Donnerstag meldeten sich Skeptiker zu Wort: Anstatt für eine Übergangsfrist im Amt zu bleiben, solle der Regierungschef lieber gleich zugunsten seines Vize Dominic Raab den Hut nehmen. "Wollen Sie Johnson die Möglichkeit belassen, neue Oberhausmitglieder zu benennen?", lautete die rhetorische Frage des Parteistrategen Nick Timothy, einst Chefberater von Johnsons Vorgängerin Theresa May (2016–2019), auf Twitter. Ex-Premier John Major (1990–1997) nannte es "unklug" und "untragbar", seinen ungeliebten Nachfolger im Amt zu belassen.

Frage: Verfügt Großbritannien über eine funktionierende Regierung?

Antwort: Nein, lautet die Antwort der Opposition. Labour-Vizechefin Angela Rayner verwies im Unterhaus darauf, dass ganze Ressorts wie Bildung und Regionalausgleich am Donnerstag verwaisten. Auch konnten Ausschüsse zu bestimmten Gesetzesvorhaben nicht zusammentreten, weil die dazu notwendige Ministerin oder Staatssekretärin fehlte. "Das Regierungsgeschäft geht weiter", teilte hingegen Staatssekretär Michael Ellis unter dem Hohngelächter des Parlaments mit. Tatsächlich ernannte der Premier später auf Abruf neue Minister und Staatssekretäre, um die Lücken zu füllen.

Frage: Was bedeutet der Rücktritt für die Opposition?

Antwort: Gewiss werden Labour-Mitglieder, Liberaldemokraten, Grüne sowie schottische und walisische Nationalisten Johnsons Sturz mit gemischten Gefühlen beobachten. Der blonde Strubbelkopf war so unpopulär geworden, dass alle Oppositionsparteien bei den jüngsten Wahlen Punkte machen konnten. Ein neues Gesicht könnte die seit zwölf Jahren regierenden Tories wiederbeleben.

Labour-Oppositionschef Keir Starmer richtete sein Feuer deshalb zuletzt kaum noch auf Johnson, schließlich sei seit Monaten klar, dass dieser "als Premierminister ungeeignet" sei. Vielmehr griff der 59-Jährige das Kabinett als "Brigade von Leichtgewichten" und "Z-Liste von Abnickern" an; die "korrumpierte Partei" der Tories müsse aus dem Amt gejagt werden. Dementsprechend kündigte Starmer am Donnerstag eine Vertrauensabstimmung im Parlament an – wohl um die Konservativen zu zwingen, sich ein letztes Mal um den ungeliebten Chef Johnson zu scharen.

Frage: Wie geht es nun weiter?

Antwort: Für Johnsons Nachfolge steht eine lange Liste ehrgeiziger Männer und Frauen bereit. Die Unterhausfraktion wird bis zur Sommerpause Ende des Monats zwei Kandidaten bestimmen; diese müssen sich anschließend der Urwahl durch die rund 200.000 Tory-Mitglieder stellen.

Frage: Wie sieht Johnsons Zukunft aus?

Antwort: Er muss dringend Geld verdienen. Das Premiergehalt von 157.372 Pfund (185.246 Euro) hat hinten und vorn nicht gereicht, schließlich hat der 58-Jährige eine teure Scheidung von seiner langjährigen Frau Marina Wheeler hinter sich, muss zudem seine sieben Kinder unterstützen. Die beiden jüngsten Kinder aus der Ehe mit seiner jetzigen Frau Carrie sind gerade mal zwei Jahre und sieben Monate alt.

Als "Telegraph"-Kolumnist hatte der langjährige Journalist eine Viertelmillion Pfund im Jahr verdient; hinzu kamen keineswegs unbeträchtliche Tantiemen aus seinen Büchern, zuletzt einer selbstverliebten Biografie über Kriegspremier Winston Churchill. Das lang gehegte Projekt einer Biografie über den englischen Nationaldichter William Shakespeare liegt seit seiner Amtsübernahme als Premierminister auf Eis; den sechsstelligen Vorschuss aber wird Johnson baldmöglich abarbeiten müssen.

Die Tierschutzlobbyistin und hervorragend in der konservativen Partei vernetzte Carrie Johnson (34) dürfte erheblich zum Familieneinkommen beitragen. Jedenfalls traute der damalige Außenminister Johnson seiner damaligen Geliebten den Job als Leiterin seines Büros im Foreign Office mit sechsstelligem Gehalt zu; weil Spitzenbeamte von der Liaison Wind bekamen, wurde die Berufung verhindert. (Sebastian Borger aus London, 7.7.2022)