Wer jetzt Überraschung heuchelt, hat sich jahrelang in die Tasche gelogen. Dass Boris Johnson für das höchste Regierungsamt Großbritanniens ungeeignet war, das wussten in Westminster alle. Wohlbekannt waren die Charaktereigenschaften und der Politikstil des mittlerweile 58-Jährigen: die schreiende Selbstbezogenheit, die Unfähigkeit zu Loyalität, die notorische Lügenhaftigkeit, die Begeisterung für populistische Boulevardslogans, der fehlende Wille zu stetiger, kompetenter Regierungsarbeit, die Verachtung aller politischen Konventionen. Letztere ist besonders gefährlich in einem Land, dessen ungeschriebene Verfassung auf Traditionen und ungeschriebenen Gesetzen beruht.

Der scheidende Premier Boris Johnson ließ in seiner bitteren Rücktrittsrede keine Spur von Demut oder Selbsterkenntnis erkennen.
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Johnsons bittere Rücktrittsrede am Donnerstag hat all das bestätigt. Keine Spur von Demut oder von Selbsterkenntnis. Stattdessen unternahm der Redner den Versuch, eine Dolchstoßlegende in die Welt zu setzen: der strahlende Wahlsieger, von den "exzentrischen" Zwergen der konservativen Fraktion zur Strecke gebracht. Der ihm nachfolgenden Person im Amt wolle er "alle Unterstützung, die ich geben kann", zuteilwerden lassen. So spricht kein patriotischer Staatsmann, der seinem Land und dessen Führungspersonal das Beste wünscht.

Boris Johnsons einziges Verdienst besteht darin, dass er mit Brachialgewalt den gordischen Brexit-Knoten zerschlagen konnte. Dies war 2019 tatsächlich notwendig, denn das Ergebnis des Referendums musste umgesetzt werden, um das zerrissene Land zu befrieden. Daraus aber den härtestmöglichen EU-Austritt zu machen und sich dabei komplett mit Brüssel zu überwerfen gehört zu den zahlreichen Fehlern von Johnsons Regierungstätigkeit.

Großbritannien steckt in der Krise, das hat nicht zuletzt das Ergebnis der EU-Volksabstimmung zutage gefördert. Schreiende soziale Ungerechtigkeit, die Vernachlässigung ganzer Regionen, die schlechte berufliche Ausbildung allzu vieler junger Menschen – all dies kommt zu den Problemen, mit denen sich andere Demokratien ebenfalls herumschlagen: die Klimakrise, die massive Teuerung, der russische Angriff auf die Ukraine und damit auf die europäische Friedensordnung.

Dem Königreich ist zu wünschen, dass es in dieser Situation eine sachbezogene, am Gemeinwohl orientierte Nachfolge für den schlechtesten Premier der vergangenen 50 Jahre findet. (Sebastian Borger, 7.7.2022)