Das Foto, das aus einem Hubschrauber der Nachrichtenagentur Kyodo News in Nara aufgenommen wurde, zeigt den Bereich des Tatorts, wo es zu dem Anschlag auf den ehemaligen japanischen Regierungschef gekommen war.

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Der frühere japanische Regierungschef Shinzo Abe wurde bei einem Anschlag lebensgefährlich verletzt.

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Tokio – Der ehemalige japanische Ministerpräsident Shinzo Abe ist bei einem Attentat getötet worden. Nach einer entsprechenden Meldung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens NHK am Freitagvormittag bestätigten nun auch die behandelnden Ärzte in der Universitätsklinik der westjapanischen Stadt Nara den Tod des Ex-Premiers. Ein Mann hatte zuvor während einer Wahlkampfrede auf den früheren langjährigen Vorsitzenden der Liberaldemokratischen Partei (LDP) geschossen. Nach Angaben des Ärzteteams hat Abe aufgrund der Folgen des Angriffs viel Blut verloren, die Kugel habe sein Herz getroffen. Schon bei Abes Ankunft im Spital seien keine Lebenszeichen mehr zu messen gewesen. Aus diesem Grund sei es trotz der Gabe von Blutkonserven nicht gelungen, sein Leben noch zu retten.

DER STANDARD

Der japanische Ministerpräsident Fumio Kishida teilte in einer ersten Reaktion auf den Tod des ehemaligen Premierministers mit, dass er zutiefst betroffen sei von der Nachricht. Er könne keine Worte dafür finden, um auszudrücken, wie er sich fühle. Er bezeichnete Abe dabei als Freund, mit dem er viel Zeit verbracht habe. Von ihm habe er in all den Jahren stets wertvolle Ratschläge und Unterstützung erhalten. Außerdem habe der ehemalige Premier das Land mit großer Führungsstärke geleitet.

Weltweite Anteilnahme

Weltweit reagierten Politikerinnen und Politiker erschüttert auf das Ableben von Abe. US-Außenminister Antony Blinken sagte, die Ermordung des ehemaligen Premiers von Japan sei "schockierend" und "zutiefst beunruhigend". Abe sei eine Führungspersönlichkeit mit großem Weitblick gewesen. Der französische Präsident Emmanuel Macron sprach den japanischen Behörden und dem japanischen Volk im Namen des französischen Volkes sein Beileid aus. Japan verliere einen großen Premierminister, der sein Leben seinem Land gewidmet und sich für das Gleichgewicht in der Welt eingesetzt habe.

Der britische Premierminister Boris Johnson sagte am Freitag, dass Großbritannien in dieser dunklen Zeit an der Seite Japans stehe. "Unglaublich traurige Nachrichten über Shinzo Abe", schrieb Johnson via Twitter. "Seine globale Führungsrolle in Zeiten des Umbruchs wird vielen in Erinnerung bleiben. Meine Gedanken sind bei seiner Familie, seinen Freunden und dem japanischen Volk." Auch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz zeigte sich "fassungslos und zutiefst betrübt" über die Nachricht. "Wir stehen auch in diesen schweren Stunden eng an der Seite Japans", sagte Scholz und drückte der Familie Abes sein tiefes Mitgefühl aus.

Südkoreas Präsident Yoon Suk-yeol sprach Akie Abe, der Ehefrau von Shinzo Abe, sein Beileid aus. "Ich spreche den Hinterbliebenen und dem japanischen Volk, das den dienstältesten Premierminister und angesehenen Politiker in der Verfassungsgeschichte Japans verloren hat, mein Beileid aus", wurde Yoon in einer Erklärung des Präsidialamts zitiert.

Ehemaliger Marinesoldat

Der mutmaßliche Schütze, ein mittlerweile festgenommener 41-jähriger Mann, hatte Abe während einer Wahlkampfrede nahe einem Bahnhof in Nara mit einer selbstgebauten Waffe angeschossen und lebensgefährlich verletzt. Der 67-jährige ehemalige Spitzenpolitiker soll laut Angaben der Feuerwehr der Stadt Nara im Bereich des Nackens auf der rechten Seite sowie beim linken Schlüsselbein getroffen worden sein. Abe soll offenbar einen Herz- und Atemstillstand erlitten haben, als er ins Krankenhaus geflogen wurde, nachdem er zunächst bei Bewusstsein und ansprechbar war. Der Ausdruck "Herz- und Atemstillstand" (心肺停止 shinpai teishi) wird in Japan oft benutzt, wenn der Tod noch nicht offiziell festgestellt wurde und die Angehörigen noch nicht benachrichtigt sind.

Unmittelbar nach den Schüssen überwältigten Sicherheitskräfte den mutmaßlichen Täter, der als Tetsuya Yamagami aus Nara identifizierte wurde. Der Mann diente zwischen 2002 und 2005 als Berufssoldat bei der japanischen Marine (海上自衛隊 Kaijou Jieitai). Über ihn liegen keine polizeilichen Einträge vor. Angeblich soll er am Tatort gesagt haben, er sei unzufrieden mit dem Verhalten von Abe gewesen und habe daraufhin beschlossen, ihn zu töten. Beim Attentat verwendete er eine offenbar selbstgebaute Waffe mit zwei Rohren, die mit Klebeband umwickelt waren. In Japan ist der Besitz von Schusswaffen stark eingeschränkt.

Der japanische Verteidigungsminister und jüngere Bruder Shinzo Abes, Nobuo Kishi (LDP), erklärte am Freitag, dass Abe eine Bluttransfusion erhalten habe. Kishi bezeichnete den Anschlag auf seinen Bruder als "unentschuldbare" Tat.

Eine Sonderausgabe der "Hokkaido Shimbun" zum tödlichen Anschlag auf den ehemaligen Premierminister Abe wird in den Straßen von Sapporo verteilt.
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Zwei Schüsse

Die japanische Regierung bestätigte das Attentat. "Auf den früheren Regierungschef Abe wurde gegen 11.30 Uhr in Nara geschossen", sagte Regierungssprecher Hirokazu Matsuno vor Journalisten. "Ein Mann, der mutmaßliche Schütze, wurde festgenommen."

"Er hat eine Rede gehalten, und ein Mann ist von hinten gekommen", sagte eine Frau vor Ort dem japanischen TV-Sender NHK. Der Angreifer habe mindestens zwei Schüsse abgegeben. "Nach dem zweiten Schuss haben Leute ihn (Abe, Anm.) umringt und ihm eine Herzdruckmassage gegeben."

Grundpfeiler der Demokratie

Kishida hatte das Attentat als "unverzeihliche Tat (...) auf das Schärfste" verurteilt. Die Tat sei schließlich während einer Wahlveranstaltung – einer der Grundpfeiler der Demokratie – verübt worden.

Der britische Premierminister Boris Johnson erklärte, er sei äußerst entsetzt und traurig über den "verabscheuungswürdigen Angriff" auf den japanischen Ex-Premierminister.

Polarisierende Politik

Als Regierungschef zwischen Ende 2012 und September 2020 hatte Abe eine stark polarisierende Politik verfolgt. Einerseits steuerte er das Land nach rechts und interpretierte die pazifistische Verfassung neu, damit die Streitkräfte ihren Bündnispartner USA auch unterstützen dürfen, wenn es keinen direkten Angriff auf Japan gibt. Zudem hörte er damit auf, sich für den japanischen Angriffskrieg in Asien zu entschuldigen. Andererseits setzte er auf eine neoliberale Wirtschaftspolitik, die Abenomics. Großzügige Staatsausgaben und eine extrem lockere Geldpolitik sollten das Wachstum ankurbeln. Dafür öffnete Abe Japan so weit wie nie zuvor für ausländische Investoren, Touristen und Arbeitskräfte.

Seinen Rücktritt vor knapp zwei Jahren begründete er mit seiner schlechten Gesundheit, aber vor allem wollte er sich mehreren Skandalen entziehen, die damals überkochten. Seitdem entwickelte sich Abe zur mächtigsten Figur in Japans Politik. Er kontrolliert die größte Gruppe von Abgeordneten der Liberaldemokratischen Partei, die Japan seit 1955 dominiert. Viele Beamte im Regierungsapparat verdanken ihm seinen Job, auch Premier Kishida übernahm mithilfe von Abe den Vorsitz der LDP. Zu dessen Ärger verhinderte sein Mentor jedoch seitdem, dass sein politisches Erbe kritisiert und korrigiert wird. Zuletzt setzte sich Abe für eine rasche und starke Erhöhung der Verteidigungsausgaben ein und plädierte für eine Stationierung von US-Atomwaffen in Japan.

Oberhauswahlen am Sonntag

In Japan finden am Sonntag Wahlen zum Oberhaus statt. Es wird erwartet, dass die Liberaldemokratische Partei einen haushohen Sieg erringen wird. Damit könnte die Debatte um einen Verfassungsänderung an Fahrt gewinnen. Das Inselreich Japan hat Waffengesetze, die international betrachtet zu den schärfsten gehören, und gilt insgesamt als eines der sichersten Länder der Welt. (Kiyoko Metzler, Martin Fritz aus Tokio, Reuters, 8.7.2022)