Leo Gazzara wohnt in Rom. Gekommen ist er aus Mailand, oft wäre er gerne woanders, aber er bleibt. Es ist ein gutes Jahrzehnt nach La dolce vita, eine Zeit der Resignation, der bleiernen Jahre in Italien, des Endes der politischen Träume. Es sind die Jahre, in denen ehemals kommunistische Journalisten beim Fernsehen landen und verarmte Adelige ihre Haltung zu bewahren suchen, während ihnen die Möbel weggetragen werden.

In diese Zeit, in diese Stadt gerät der Ich-Erzähler Leo. Durch seine Augen erleben wir, wo er sich und wo es ihn herumtreibt. Kühl, lapidar, aus der Distanz beobachtet er seinen Alltag. Da ein Film, der ihn nicht interessiert, dort ein Bekannter, den er anpumpen kann, ein Drink aus Langeweile, noch einer, ein Job, den er bald verliert. Und eine Party, die sein Leben vielleicht verändert.

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Calligarich, in den 1970ern wohnhaft in Rom, hat sich in die Welt eines Drifters hineingeschrieben.
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Nervös und wunderschön

Auf dieser Zusammenkunft mehr oder weniger reicher Müßiggänger lernt er Arianna kennen. "Abwesend, fremd und irgendwie nervös" scheint sie ihm, und wunderschön. Zwischen ihnen entspinnt sich eine Beziehung, so extravagant wie anstrengend. Beide bräuchten sie Hilfe, die ihren ziellosen, beschädigten Existenzen eine Richtung geben könnte. Stattdessen spielen sie Spiele von Annäherung und Abstoßung, wie sie es aus ihren bisherigen Leben gekannt haben, und sie kommen aus ihnen nicht heraus. Sie sind Gefangene in ihren Geschichten und in der Hitze Roms.

Es ist Der letzte Sommer in der Stadt: Giancarlo Calligarich, auch in Mailand aufgewachsen (mit Triestiner Wurzeln, wie der Familienname nahelegt) und Anfang der Siebzigerjahre wohnhaft in Rom wie Leo und ähnlich jung, hat sich in die Welt eines Drifters hineingeschrieben, vielleicht aus eigener Erfahrung, wir wissen es nicht, es ist auch nicht wichtig.

Leo jedenfalls fühlt sich "von einem unüberwindlichen Gefühl der Nutzlosigkeit getrieben". In seinen Versuchen, doch von Nutzen zu sein, wenigstens in der Beziehung zu Arianna, sehen wir, wie er sich selbst im Weg steht. Er sieht es auch. Er spürt, wie sein Versuch, in Mailand seinen Eltern wieder näherzukommen, an alten Wunden und an unüberwindlicher Sprachlosigkeit scheitert.

In dem Roman, der 1973 in Italien zum Erfolg wurde, dann fast in Vergessenheit geriet und nun erstmals auf Deutsch und in mehreren anderen Sprachen erscheint, breitet Calligarich das Innenleben eines Menschen vor uns aus, der zu klug ist, als dass er seinen eigenen Illusionen glauben könnte. Er hat auch keine mehr, wie er das Drehbuch seines einzigen, verstorbenen Freundes verfilmen lassen will. Bevor es zu einer Seifenoper wird, schmeißt er die Idee lieber hin und betrinkt sich.

Gianfranco Calligarich, "Der letzte Sommer in der Stadt". Aus dem Italienischen von Karin Krieger, € 22,70 / 208 Seiten. Zsolnay-Verlag, 2022

Ein besonderer Rausch

Die Alternative aber zu dem Leben in einer Stadt, die, wie es gleich zu Beginn heißt, "einen besonderen Rausch" in sich birgt, "der die Erinnerungen verbrennt" – die Alternative ist das Meer. Es ist physisch präsent, ein Sehnsuchtsort, ein Fluchtpunkt für Leo nicht weit von Rom. An der Meeresküste wendet sich die Liebesbeziehung zu Arianna. Es ist auch durchgehende Metapher im Roman, von einem vorangestellten Zitat – für den Psychoanalytiker Sándor Ferenczi ist die Eintrocknung der Meere die erste große Menschheitskatastrophe – bis zu einer häufigen Formulierung in der Erzählung: Die Menschen gehen nicht einfach woanders hin, sie "setzen die Segel" – aber es ist nicht klar, wohin der Wind sie treibt.

Freunde von Leo haben es mit einem Arbeitsvertrag weit übers Meer nach Mexiko geschafft. Aber sie haben die Segel dann in die Gegenrichtung gesetzt, ohne dass sich viel verändert hätte. (Wie Leo so etwas kühl konstatiert, wie er überhaupt abgeklärt und ironisch über sich und andere nachdenkt, das hat die Übersetzerin souverän übertragen; und "una zucchina" hat sie ganz richtig ins falsche "eine Zucchini" eingedeutscht; das passt).

Zum Meer fährt Leo noch einmal, dort kommt der Roman zu einem plötzlichen, aber, wenn man die Zeichen gelesen hat, nicht wirklich überraschenden Schluss. Nur so viel sei verraten: Die Erzählkonstruktion erinnert an Billy Wilders Sunset Boulevard. Und die vita ist nicht dolce. (Michael Freund, 9.7.2022)