Verschiedene Stimmen versammeln und vermitteln, was ein Gedicht alles sein kann: der Lyriker Timo Brandt.
Foto: Heribert Corn

Wie werde ich die Auswahl der Gedichte anlegen?

In einem Wort: vielfältig. Ich möchte möglichst viele unterschiedliche Stimmen versammeln und den Leser:innen so einen Eindruck davon vermitteln, was ein Gedicht alles (sein) kann. Auch Diversität in Bezug auf die Autor:innen ist mir wichtig.

Worin liegen die Chancen und Potenziale dieser Gattung?

Das Gedicht wird gemeinhin als die literarische Gattung angesehen, in der sich Gedanke und Gefühl am nächsten kommen. Ich würde noch weiter gehen und sagen: Es fängt das oftmals unstrukturierte und flüchtige Wesen dieser beiden Entitäten ein und versucht ihr Zusammenspiel, ihre gegensätzlichen und dennoch verwandten Kräfte zu einem Erlebnis, einer Erkenntnis, einem Eindruck zu verdichten. Aus der Fusion dieser beiden Kerne gebiert es, sozusagen, sein Potenzial.

Dieses Potenzial nutzt es, um uns zu vergegenwärtigen, dass wir in und aus Zusammenhängen bestehen, derer wir uns nicht (vollends) bewusst sind, die uns zwar umtreiben, aber die uns selten klar vor Augen stehen. Die Essayistin Lynn Salcom hat es einmal schön formuliert: "Poesie ist eine Probe, entnommen dem Vermeintlichen, das zum Eigentlichen wird im Zuge des Gedichts, welches eine Untersuchung der Probe ist."

Die Begegnung mit diesen unvermuteten Zusammenhängen, Eindrücken, Destillaten galt lange als etwas Erhabenes, Erhebendes. Und noch immer spricht nichts gegen ein Gedicht, welches vor allem "schön" ist – sprachlich, inhaltlich und/oder klanglich. Aber darin erschöpfen sich seine Möglichkeiten nicht. Vielmehr hat die Lyrik der vergangenen Jahrzehnte gezeigt, dass eine große Stärke des Gedichts in seiner Fähigkeit liegt, Unbehagen auszudrücken und hervorzurufen. Dies ist ein Gefühl, das meist gemieden, dessen Bedeutung aber oft unterschätzt wird. Nicht jedes Kunstwerk muss Unbehagen hervorrufen – manche wiegen es auch gleich wieder auf, etwa durch Humor –, aber bei vielen Kunstwerken ergibt sich ihre Qualität aus dem Unbehagen, das sie hervorrufen und das eng verknüpft ist mit der Komplexität der Welt und unserer Rolle darin.

Einschätzungen, wonach jede Form von Lyrik in den Medien stiefmütterlich behandelt wird, sind nicht ganz richtig. Jeden Tag laufen überall auf der Welt rund um die Uhr Popsongs. Vielleicht, weil hier Elemente wie das Erhabene und das Unbehagen durch die Musik zusätzlich aufbereitet, quasi mundgerecht gemacht werden (vergleichbar mit den Witzen in TV-Sitcoms, die man mit eingespieltem Lachen untermalt).

Meine persönlichen Vorbilder?

Es sind zu viele, um sie alle hier zu nennen. Aber ein paar Lyriker:innen, die ich sehr schätze und von denen ich einiges gelernt habe, sind: Rainer Malkowski, Wisława Szymborska, Ted Hughes, Sirka Elspaß, Kaveh Akbar, Elfriede Gerstl, Ernst Jandl, Lütfiye Güzel, Lars Gustafsson, Anne Sexton, Hellmuth Opitz, Silke Scheuermann, Joseph Brodsky, Marina Zwetajewa. Hinzu kommen Musiker:innen wie Bob Dylan, Mary Chapin Carpenter, Bruce Springsteen und Regina Spektor.

Gewinnen Gedichte bei häufigem Umgang mit ihnen?

Der These, dass es mit Gedichten ähnlich sei wie mit dem Jazz, nämlich häufiger Umgang damit würde das Vergnügen und die Orientierung erheblich erhöhen, kann ich durchaus etwas abgewinnen. Umso mehr Lyrik man liest, desto mehr lernt man schätzen, was ein Gedicht bewirken und was es einem bedeuten kann. Andererseits habe ich manchmal den Eindruck, dass Gedichte eher wie klassische Musik sind: Viele Leute denken, dass sie langweilig ist und sie ihr nichts abgewinnen können, bis sie einmal ganz unvermutet von einem Stück begeistert werden (meist durch einen Film) und erfahren, was sie in ihnen auslösen kann, was sie auszudrücken vermag.

Müssen Gedichte laut vorgetragen werden?

Oft wird beklagt, dass sich eine Kluft aufgetan hat zwischen einer Lyrik, die sich an ein inneres Ohr wendet, und einer, die für den öffentlichen Vortrag gedichtet wurde. Ich glaube, man sollte diese Entwicklung als eine Art Evolution begreifen. Manche Gedichte haben sich den Bedingungen des inneren Ohrs angepasst, andere leben vom Klang, und manche kommen in beiden Umgebungen gut klar. Vermutlich waren diese Anpassungen und Spezialisierungen wichtig für das Überleben des Gedichts. In jedem Fall ist das Ergebnis eine erfreuliche Vielfalt, sowohl was die Breite als auch was die Tiefe angeht. Und wie schrieb schon Emily Dickinson: "To multiply the harbors does not reduce the sea" – "Die Vermehrung der Häfen verringert nicht das Meer".

Ich glaube zwar, dass sich Gedichte und andere lyrische Werke grob in zwei Richtungen unterteilen ließen, wenn man es darauf anlegen würde, es aber immer Werke gäbe, die weder die eine noch die andere Seite für sich beanspruchen könnten. Mit denen wäre die Kluft schon überbrückt. Aber ich bezweifle, dass man von einer Kluft sprechen kann.

Wie bei anderen Genres auch wurden in der Lyrik immer wieder Grenzen propagiert und gezogen, meist im Versuch, eine Methode, eine Art des Schreibens zur Regel, zum Maß aller Dinge zu erheben und gegen eine andere, (angeblich) weniger lesenswerte, weniger bedeutende, weniger elaborierte etc. abzugrenzen. Aber dort tut sich nicht automatisch eine Kluft auf. Entscheidend ist, ob ein Werk mit und innerhalb seiner eigenen Methode überzeugen kann. Es gibt ambitionierte Methoden und weniger ambitionierte. Und es gibt Methoden, die älter sind, und wenn ein Werk ein Thema/Motiv neu aufbereitet (oder das Thema/Motiv neu ist), ist das natürlich eine Qualität. Aber nicht die einzige und oft nicht einmal die entscheidende.

Können Gedichte eingesandt werden?

Bisher haben Dichter und Lyrikerinnen immer wieder Gedichte an die Redaktion geschickt. Das können sie jederzeit und gerne weiter tun. Ich muss allerdings darum bitten, nur wenige Texte einzusenden und auf eine Antwort zu warten, bevor man erneut einsendet. Ich antworte in jedem Fall, aber es kann eine Weile dauern. Zusendungen bitte an: timo.brandt.7@gmail.com. (Timo Brandt, 9.7.2022)