In vieler Hinsicht wirkt St. Thomas am Blasenstein wie eine typische österreichische Gemeinde. In der Ortsmitte des 900-Einwohner-Dorfes weisen Schilder zur Volksschule, zum Gemeindeamt und zum Gasthaus. Und ein weiteres zu einer "Mumie". Das ist dann doch ungewöhnlich. Wie bitte, Frau Schachinger, eine Mumie mitten in St. Thomas im östlichen Mühlviertel? Gerlinde Schachinger lächelt. "Ja, und hoffentlich noch lange. Der Franz Xaver hatte dazwischen einmal Schimmelbefall, aber jetzt ist er perfekt präpariert", sagt die 60-Jährige.

Kultische Verehrung

Die ehemalige Pfarrgemeinderätin Schachinger macht Führungen zu dem berühmten Toten. Aus den Chroniken der katholischen Pfarre weiß man, dass es sich bei der Mumie um den Priester und Pfarrvikar Franz Xaver Sidler von Rosenegg handelt, der von 1709 bis 1746 gelebt hat. Es fällt auf, dass Gerlinde Schachinger den Verstorbenen fast liebevoll "Franz Xaver" nennt. Sie spricht weder mit kultischer Verehrung noch mit Häme über die Mumie, sondern stets mit Respekt. "Natürlich wurden Witze gemacht, von Besuchern wie von Einheimischen", sagt Schachinger. "Weil der Franz Xaver teilweise Verlegenheit auslöst."

Die Pfarrkirche von St. Thomas am Blasenstein.
Foto: Lukas Kapeller

Auch der Spitzname der Mumie zeugt vom früher halb verschämten, halb spöttischen Umgang mit dem verdorrten Gottesmann: Als "luftg’selchter Pfarrer" ist er bis heute über regional bekannt. Warum Franz Xaver Sidler so gut erhalten blieb, mit Haut und allen Organen, galt bis vor fünf Jahren als Mysterium. 2017 holten die deutschen Mediziner Oliver Peschel und Andreas Nerlich die Mumie für zehn Monate nach München, um sie zu untersuchen. Seitdem sind viele Rätsel gelöst.

Franz Xavers Innereien

Eine Computertomografie bewies, dass der Pfarrvikar nach seinem Tod rektal ausgestopft worden ist – mit Holzspänen, Astwerk und Stoffstücken. Dies verhinderte laut den Münchner Forschern die Verwesung. Ergebnisse der Toxikologie brachten außerdem zutage, dass die Haltbarmachung auch mit Chemikalien unterstützt worden ist. Dann muss der Tote länger unter Luftabschluss gelegen sein. Eine Erdbestattung sei auszuschließen. Auch über Sidlers Lebensstil ließ sich bei den Untersuchungen manches herauslesen: Er war Pfeifenraucher, ernährte sich relativ gesund und hatte keine Karies.

Die ehemalige Pfarrgemeinderätin Gerlinde Schachinger macht Führungen zur Mumie.
Foto: Lukas Kapeller

Gestorben ist der Pfarrvikar mit 37 Jahren an einem Blutsturz infolge einer fortgeschrittenen Lungentuberkulose. Aus Angst vor der Krankheit wurde er damals nicht aufgebahrt, es sollte wohl schnell gehen mit der Bestattung. Aber warum kam der Geistliche nicht unter die Erde? "Man hat ihn ausgestopft, weil man ihn kurz haltbar machen wollte", vermutet Schachinger. Dann sei man im Dorf wohl unsicher gewesen, ob man den Verstorbenen ins nahe Stift Waldhausen bringen oder in der Kirchengruft von St. Thomas am Blasenstein lassen soll. Er blieb in St. Thomas. Erst um das Jahr 1800, mehr als 50 Jahre nach seinem Tod, sei der Eichensarg des nun mumifizierten Pfarrvikars wieder geöffnet worden.

Im 19. Jahrhundert rankten sich im Mühlviertel dann allerhand Mythen um den bestens erhaltenen Leichnam. Weil Sidler der mündlichen Überlieferung zufolge Epileptiker gewesen war, galt er den Gläubigen als Helfer gegen diese Krankheit. Viele Jahrzehnte lang seien in der Region auch Fürbitten an Franz Xaver Sidler adressiert gewesen, beinahe wie an einen Heiligen, erzählt Schachinger. Die Amtskirche wehrte sich immer schon gegen den Mumienkult, was rückblickend wohl nicht ihre abwegigste Position in den vergangenen zwei Jahrhunderten war.

Mumifizierte Nebenbuhler

Auch der im Jahr 2019 verstorbene Pfarrer von St. Thomas am Blasenstein, Josef Hinterleitner, hatte ein kompliziertes Verhältnis zur Mumie. Vom Rufnamen "luftg’selchter Pfarrer" hielt er gar nichts, auch die wissenschaftliche Untersuchung in München soll ihm missfallen haben. Forscher gegen Kleriker, in St. Thomas spielten sich wohl Szenen wie im Roman "Der Name der Rose" ab.

Im Sachbuch … berührt von der Majestät des Todes …, das auf 200 Seiten die Geschichte der Mühlviertler Mumie erzählt, findet sich neben dem Rechtsmediziner Peschel und dem Pathologen Nerlich immerhin Judith Wimmer vom Kunstreferat der Diözese Linz als dritter Herausgeber. Kirche und Wissenschaft scheinen heute versöhnt.

Der Pfarrvikar Franz Xaver Sidler liegt mumifiziert in einem schweren Eichensarg.
Foto: Lukas Kapeller

Im ehemaligen Stift Waldhausen, eine halbe Autostunde von St. Thomas entfernt, kann man übrigens ebenfalls Mumien besichtigen, drei an der Zahl. Die Leichname der Pröpste sind etwa hundert Jahre älter als der Franz Xaver Sidlers, aber nicht ganz so gut erhalten, Mumienexperten sprechen von "Teilmumien".

Postmoderne Nachdenklichkeit

Derzeit ruht Sidler wieder in jenem Raum unter der Pfarrkirche, in dem er schon vor fast 300 Jahren lag. Schautafeln erklären Besuchern die historischen und medizinischen Hintergründe, eine Granitplatte des Künstlers Arnold Reinthaler mit der Aufschrift "Five minutes left" ("Fünf Minuten übrig") sorgt für ein bisschen postmoderne Nachdenklichkeit. Die Geschichte des "luftg’selchten Pfarrers" ist auch eine über die Evolution des Tourismus – von der Gruselkammer zum Museum.

"Als ich ein Mädchen war, fand ich’s hier zum Gruseln. Heute habe ich keine Angst mehr", sagt Schachinger. Einmal im Monat putzt sie die Räume und führt Touristen durch die revitalisierte Kirchengruft, rund 6000 Besucher jährlich. Einlass bekommt man durch Einwurf von zwei Euro, egal wie viele Leute durch die Pforte gehen, das wird nicht kontrolliert – ein Mysterium zum Münztarif.

Nicht alle im Ort schätzen den Spitznamen für die Mumie: der luftg'selchte Pfarrer.
Foto: Lukas Kapeller

Neben dem Mumienmuseum kann man in St. Thomas noch die Kirche, den ehemaligen Burgplatz ("Burgstall") und einen berühmten Stein besichtigen, die sogenannte Bucklwehluck’n. Auf einer Felsplatte im Ortszentrum ruht dieser fünf Meter aufragende Granitblock mit einem Spalt. Nach altem Glauben hilft das mühevolle Durchschlüpfen von Ost nach West gegen Rückenschmerzen und Rheuma. "Das verlangt jedem etwas Demut ab und soll an den Geburtsakt erinnern", sagt Schachinger. Auch gibt es in der an Granit und Fantasie reichen Gemeinde einen Wackelstein und sogar einen Phallusstein.

Am bekanntesten bleibt in St. Thomas aber wohl die Mumie. Gerlinde Schachinger ist ganz froh, dass durch die wissenschaftlichen Untersuchungen und das Ausstellungsdesign die gespenstische Aura verschwunden ist. "Der Franz Xaver gehört ja zu uns als Gemeinde", sagt sie. Neben dem Sarg ist ein altes Messgewand, das Sidler theoretisch getragen haben könnte, ausgestellt und auch jene Lederschuhe, in denen der Leichnam tatsächlich gesteckt ist. Die Mumie vom Mühlviertel ist wieder zu einem Menschen geworden. (Lukas Kapeller, 14.7.2022)