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11.5 Sekunden. Mehr Zeit brauchte die damals achtzehnjährige Helen Stephens nicht, um bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin die 100 Meter zu laufen. Das bedeutete olympisches Gold und einen Weltrekord, der 24 Jahre Bestand hatte. Eine unfassbare Sensation. So unfassbar, dass ein polnischer Journalist über ein Magazin die Behauptung lancierte, Stephens sei ein Mann – denn so schnell könne keine Frau sein. Zumal Stephens mit beachtlichen Erfolgen auch Kugelstoßen und Diskuswerfen betrieb.

Daraufhin wurde ein Geschlechtstest durchgeführt. Stephens bestand den Test und verklagte anschließend das Magazin erfolgreich.

Was damals als Einzelfall begann, machte bald Schule. In den 1940ern mussten sich Sportlerinnen von Ärzten sogenannte Weiblichkeitszertifikate ausstellen lassen. In den 1950ern folgten die ersten Sportverbände. Verpflichtend für alle Sportlerinnen führte das IOC 1966 Geschlechtstests ein. Frauen hatten sich dafür nackt vor Ärzten zu präsentieren, nach Aufruf vorzutreten und ihren Körper und ihre Genitalien abtasten zu lassen. Nachdem sich viele Athletinnen beschwert hatten, ging das IOC zu Chromosomentests nach Wangenabstrich über. Aber auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten brachten diese unwürdigen Geschlechtstests viel Leid über Betroffene.

Aberkannte Silbermedaille

Die intergeschlechtliche Athletin Foekje Dillema wurde 1950 auf Lebenszeit von Wettkämpfen ausgeschlossen. Ein ganzes Jahr verließ sie danach nicht mehr ihr Haus. 1969 strich man Ewa Kłobukowska wegen "Auffälligkeiten" sämtliche Weltrekorde – nachdem sie ein Jahr zuvor ein Kind zur Welt gebracht hat. 2006 wurde Santhi Soundarajan ihre Silbermedaille aberkannt, weil ihr Körper zu viele männliche Hormone produzierte. Im Jahr darauf unternahm sie einen Selbsttötungsversuch. Und Caster Semenya kämpft seit über einem Jahrzehnt "für Würde und Gleichheit von Frauen im Sport" – ihr Fall liegt gegenwärtig beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Das alles ist wichtig zu wissen, um zu verstehen, was gerade passiert. Wir befinden uns nämlich in der Phase eines andauernden und gigantischen, um nicht zu sagen globalen Geschlechtstests. Und primäres Ziel dieses Tests sind trans Frauen. Sie sind verdächtig, ihnen will man an die Wäsche, an ihre Haut, ihre Genitalien, ja ihr nacktes Leben. Sie sollen sich rechtfertigen oder besser noch dafür bluten, was für eine Zumutung an die zur Zweigeschlechtlichkeit verabredete Welt sie darstellen. Und eigentlich hätten alle, die Teil dieser Zumutung sind, verdient, dass ich sie hier seitenweise mit biologischen Details belästige. Mit Androgenresistenz, dem Rezeptor NR3C4, der Wirkweise des Gens CYP17A1, Testosteronbindung und all den anderen zahlreichen biologischen Fakten rund um Geschlecht. Immerhin behaupten diese Leute ja steif und fest, dass das Konzept Transgender der biologischen Realität widerspricht, während sie sich mit ihrem Restgrundschulwissen zu Biologie munitionieren, um auf Menschen zu feuern, die einfach nur ihr Leben leben wollen.

Weiblichkeit beweisen

Aber das führt in einer Kolumne womöglich zu weit. Lieber möchte ich die Gelegenheit nutzen, darauf hinzuweisen, dass es sich bei der Feindlichkeit gegenüber trans Frauen in vielerlei Hinsicht um ganz ordinäre Frauenfeindlichkeit handelt. Nur, dass sich für diese Art Misogynie erstaunlich viele cis Frauen hergeben oder instrumentalisieren lassen, obwohl sie es besser wissen sollten. Geschlechtstests existieren nämlich schon seit Jahrhunderten in Form der "Keuschheitsprobe". Im 4. Buch Mose wird beschrieben, wie der Unkeuschheit verdächtige Frauen von einem Priester mit einem Wasser vergiftet werden sollen, das "ihr zum Verderben wird". Die Passage endet mit der anscheinend bis heute gültigen Formel. "Und der Mann soll frei sein von Schuld; aber die Frau soll ihre Schuld tragen." Im Talmud wird beschrieben, wie Frauen über ein Weinfass platziert werden, um zu prüfen, ob der Weingeruch im Fall einer erfolgten Beschädigung durch Geschlechtsverkehr bis zu ihrem Mund durchgeht.

Frauen mussten Feuer und Verbrühungen ertragen, Blut trinken oder hergeben, sich betatschen und penetrieren lassen. In Indien sollte eine 14-Jährige 2005 ein glühendes Brecheisen mit bloßen Händen halten, um zu beweisen, dass sie eine Jungfrau ist. Und die indonesische Armee hat den sogenannten Zwei-Finger-Test bei Rekrutinnen erst im vergangenen Jahr abgeschafft.

Richterinnen über die Weiblichkeit

Es ist immer das Gleiche: Weiblichkeit muss hergezeigt, examiniert und durchwühlt werden. Aktuell ist es vor allem die Weiblichkeit von trans Frauen. Es ist ein an Zynismus kaum zu überbietender Treppenwitz der Geschichte, dass es vielfach eben auch cis Frauen sind, die sich in der Rolle der Anklägerinnen und Richterinnen über die Weiblichkeit von trans Frauen gefallen. So, als wüssten sie nicht, dass sie sich damit zu Fürsprecherinnen einer Form der Verachtung machen, die sie stets mit meint. Die schon immer auch auf sie abgezielt hat. Die nur auf die nächstbeste Gelegenheit wartet, es mit aller Macht wieder zu tun. Weil es in all diesen Fällen schlicht und ergreifend um Frauen geht. Es bleibt zu hoffen, dass wir uns für die Exklusion, den Verrat und die Gewalt an trans Frauen so bald wie möglich rückblickend so sehr schämen, dass das nie wieder passiert. Bis dahin werden wir allerdings weiterhin zu unserer Schande und zu ihrem Schaden ihre Identitäten, ihre Körper und Leben belauern, beschmutzen und befingern. Und sie werden den Preis für unsere uneinsichtige, übergriffige Ignoranz bezahlen. So wie Frauen es schon immer getan haben. (Nils Pickert, 10.7.2022)