Im Urlaub kann man seine Sorgen und Ärgernisse hinter sich lassen – das war einmal. Heute bringt man die Sorgen mit und wird selbst zum Ärgernis schreibt, die Schriftstellerin und Dramaturgin Selma Mahlknecht im Gastkommentar.

Foto: Foto: Reuters/Guglielmo Mangiapane

Es gab eine Zeit, da stand der Sommer für Leichtigkeit, Unbeschwertheit, Übermut. Selbst während der ersten beiden Jahre der Corona-Pandemie gab es einige Wochen des Aufatmens und der zurückgewonnenen Freiheit. Man konnte wieder – ausgehen, Freunde treffen, feiern. Und obwohl die Wahl der Urlaubsziele beschränkt war, war die Reiselust ungebrochen. Die Berggebiete erlebten einen Ansturm von Menschen, die durch ihren Wunsch nach Weite und Naturgenuss den Wanderschuh wiederentdeckten. Aber auch andere Ziele, die sich bequem mit dem Auto erreichen lassen, standen hoch im Kurs, etwa die europäischen Mittelmeerstrände oder große Binnengewässer wie der Gardasee. Ein Urlaub wie früher, weniger exotisch als sonst, dafür mit einem Quantum Vertrautheit, das schien die gewinnende Formel zu sein, mit der sich auch mitten in der Krise neue Tourismusrekorde erzielen ließen.

"Als Touristin hat man eine Last im Gepäck, von der man sich eigentlich befreien wollte: Verantwortung."

Der Sommer 2022 ist noch jung, aber schon zeigt sich, dass der Traum von der Rückkehr zur "Normalität" ein trügerischer war. Während die erste Hitzewelle langsam verebbt und die nächste Corona-Welle Fahrt aufnimmt, verschiebt sich die Fragestellung von "Darf man wieder?" zu "Darf man noch?".

Als Touristin in spe hat man unausweichlich eine Last im Gepäck, von der man sich eigentlich befreien wollte: Verantwortung. Dabei wollen wir in den Ferien doch endlich einmal sorglos und vielleicht auch etwas waghalsig sein dürfen, ohne dass uns moralische Belehrungen den Genuss versauern. Und warum auch nicht? Schließlich lassen wir uns den Spaß einiges kosten, zumal angesichts der ständig steigenden Preise. Für viele ist selbst der scheinbar banale Hotelburgurlaub an der Adria schon unerschwinglich geworden.

Reise – ein Luxusgut?

Hier könnte man nun fatalistisch mit den Schultern zucken und sagen: So sieht es eben aus, wenn die Reise wieder zum Luxusgut wird. Lange genug standen die allzu billigen Pauschalangebote in der Kritik, wurde der Massentourismus zur Wurzel allen Übels erklärt. Dass sich bald nur noch die Besserverdiener ihren Platz an der Sonne leisten können, ist längst überfällig. Dadurch wird der touristische Druck abnehmen, das Angebot qualitativ verbessert und ein notwendiger Schritt hin zu mehr Kostenwahrheit unternommen. Wer so argumentiert, übersieht allerdings, dass die Kostenwahrheit nur ein Schritt auf dem Weg zu einer nachhaltigeren Tourismusentwicklung ist – wenn auch ein wichtiger. Mit dem "Qualitätstourismus" allein, hinter dem sich ohnehin nur eine "Alles wird teurer"-Strategie verbirgt, ist es nicht getan. Er entspringt der Mentalität, dass man mit Geld alles kaufen kann. Die eklatante Belastung und Übernutzung von Natur, öffentlichem Raum und Ressourcen, die gerade durch den Nobeltourismus entstehen, können aber mit Geld allein nicht ausgeglichen werden.

Die anhaltende Dürre und der drohende landwirtschaftliche Kollaps in Südeuropa führen uns diese Realität in unerbittlicher Eindringlichkeit vor Augen. Egal, wie viel der Gast bezahlt hat, um in seinem Fünf-Sterne-Resort Cocktail schlürfend am glitzernden Pool zu entspannen, er ändert nichts an der dramatischen Situation der einheimischen Bevölkerung, der das Wasser zum Zähneputzen fehlt, wie es jüngst im südfranzösischen Villars-sur-Var der Fall war. Selbst im wohlhabenden Südtirol gab es im Frühling heftige Debatten, als die anhaltende Trockenheit bereits besorgniserregende Ausmaße angenommen hatte und die Hotels dennoch pünktlich zu den Osterferien mit gefüllten Schwimmbassins und Hallenbädern aufwarteten.

Freilich: Welcher Gast hätte schon für leere Becken Verständnis gehabt? Er ist doch hier im Urlaub! Er will genießen! Ein erfrischender Sprung ins kühle Nass ist da wohl das mindeste, noch dazu bei dieser Hitze! Und überhaupt, zu diesem Preis!

Ferienbedingter Ausnahmezustand

Neben dem Ruf nach mehr Kostenwahrheit wäre darum auch ein Bekenntnis zur Ressourcenwahrheit notwendig. Die gehört aber mehr noch als die Kostenwahrheit in den Giftschrank der touristischen Unaussprechlichkeiten. Dass eine Touristin mit ihrer An- und Abreise beträchtliche Emissionen verursacht und pro Tag ihres Ferienaufenthalts nur schon an Wasser ein Vielfaches eines Einheimischen verbraucht, wird mit dem Hinweis auf den ferienbedingten Ausnahmezustand hinweggewischt. Ich lass mir doch nicht den Spaß vermiesen, wenn ich mir einmal im Jahr auch mal was gönne! Das habe ich mir verdient!

Tatsächlich gibt es jenseits der emotionalen auch rationale Gründe, warum es wenig zielführend ist, Reisenden ein schlechtes Gewissen einreden zu wollen. Den guten Willen der Zivilgesellschaft mit der Lösung globaler Probleme zu betrauen spielt einer mutlosen Politik der Schuldzuweisungen in die Hände. Wer darauf setzt, dass die Bevölkerung aus reinem Verantwortungsbewusstsein verzichtet, kann sich auf eine längere Wartezeit einstellen. Ebenso ist es utopisch zu hoffen, dass Beherbergungsbetriebe von allein ihre Angebote herunterschrauben und alles ein paar Nummern kleiner anbieten. Zwar gibt es schon sanfte Schubs-Versuche in die richtige Richtung, sogenanntes Nudging, mit denen ein touristisches Umdenken angestoßen werden soll: Es muss nicht die Porsche-Rallye über die Alpenpässe sein! Auch ein Waldspaziergang ist schön!

"Im Extremfall stehen die paradiesischen Oasen der Reichen und Schönen mit ihren sprudelnden Quellen und unerschöpflichen Genüssen den zunehmend verwüsteten Behausungen der weniger glücklichen Masse gegenüber."

Solange aber nicht klare Rahmenbedingungen geschaffen werden, um die Verteilung der sich verknappenden Ressourcen fair zu regeln, wird die erschreckende Ungleichheit zwischen darbender Lokalbevölkerung und touristischem Fürstengehabe erhalten bleiben und sich sogar noch vergrößern. Im Extremfall stehen die paradiesischen Oasen der Reichen und Schönen mit ihren sprudelnden Quellen und unerschöpflichen Genüssen den zunehmend verwüsteten Behausungen der weniger glücklichen Masse gegenüber – anschauliche Beispiele dafür finden sich bereits jetzt auf der ganzen Welt. Spätestens diese Erkenntnis zeigt, dass die Probleme der Tourismusindustrie nur Indikator gesellschaftlicher Brüche sind, die es zu überwinden gilt.

Die Katastrophen unserer Gegenwart verlangen nach einer gemeinsamen internationalen Anstrengung, die nicht nur auf einer einzigen Ebene unternommen werden darf. Soziale Gerechtigkeit, faire Ressourcenverteilung und eine Umweltpolitik, die diesen Namen verdient: Der Baustellen sind viele. Wir sollten sie endlich angehen. Spätestens nach dem Urlaub. (Selma Mahlknecht, 9.7.2022)