Am 11. Juli 2002 besetzten marokkanische Soldaten eine unbewohnte Felseninsel vor der Küste und hissten die Flagge ihres Landes. Wenige Tage später rückte Spanien mit Schiffen und Hubschraubern an und holte die Kontrolle über die Insel zurück. Was vordergründig aussieht wie ein sinnloses Geplänkel um einen irrelevanten Felsen im Meer, hat einen ernsten politischen Hintergrund.

Die Isla de Perejil – auf deutsch Petersilinsel – gehört zu der spanischen Exklave Ceuta an der nordafrikanischen Küste. Sie liegt rund einen Viertelkilometer vor der marokkanischen Küste, etwa drei Kilometer westlich vom Territorium Ceutas. Das spanische Mutterland liegt rund 13,5 Kilometer entfernt auf der anderen Seite der Straße von Gibraltar.

Schon seit dem frühen 15. Jahrhundert ist das Gebiet im iberischen Besitz – zunächst des Königreichs Portugal, dann zu Spanien gehörig. Auch nach der marokkanischen Unabhängigkeit 1956 blieb Ceuta ebenso wie die Exklave Melilla und eine Handvoll kleiner Inselchen spanisch, seit dem Beitritt Spaniens zur EU sind sie auch Teil der Union.

Seit damals sind diese Gebiete das Ziel der Begehrlichkeiten marokkanischer Irredentisten. Nicht nur die spanischen Besitzungen standen nach der Unabhängigkeit im Fokus, auch die Westsahara bekam das marokkanische Großmachtstreben zu spüren. Auch das gesamte Mauretanien und große Teile Malis und Algeriens gehörten zu den Forderungen nach einem "Großmarokko".

Ein kleines Stückchen Großmarokko

Vor zwanzig Jahren versuchte Marokko nun, sich zumindest ein Fitzelchen dieses erträumten Großmarokko einzuverleiben. Kaum ein Marokkaner oder Spanier hatte zuvor überhaupt von der nur rund 15 Hektar großen und 74 Meter hohen Insel Perejil (in der Berbersprache wird sie "Tura" genannt, was "leer" bedeutet) gehört. Nur eine marokkanische Ziegenhirtin besucht regelmäßig mit einem Boot die Insel, wo ihre Tiere auf den kargen Felsen weiden.

Nun schickt Rabat also Soldaten, die offiziellen Angaben zufolge von Perejil aus die illegale Migration überwachen sollen. Bisher war die Kontrolle der Migrationsströme eher weniger im Interesse der marokkanischen Regierung gelegen. Im Gegenteil, Madrid beklagte sich in den Jahren davor regelmäßig über die mangelnde Kooperation der marokkanischen Behörden in dieser Frage. Die spanische Regierung unter Premierminister José María Aznar protestierte scharf gegen das marokkanische Vorgehen und schickte Patrouillenboote in die Gewässer vor der Insel. Marokko ersetzte in der Folge die Soldaten durch Kadetten der marokkanischen Marine und begann mit dem Aufbau einer fixen Basis. Ein marokkanisches Patrouillenboot führte außerdem Manöver vor den spanischen Islas Chafarinas rund fünfzig Kilometer östlich von Melilla durch.

"Integraler Bestandteil Marokkos"

Rabat bezeichnet Perejil als "integralen Bestandteil Marokkos". Es ist offensichtlich, dass die Besetzung der Insel einen Präzedenzfall schaffen soll. Gibt Madrid nach und verzichtet auf die Felseninsel, werden damit in der Folge alle spanischen Territorien in Nordafrika infrage gestellt.

Während sich Kommissionspräsident Romano Prodi und die dänische Ratspräsidentschaft hinter Spanien stellten, erhielt Marokko die Unterstützung von beinahe allen arabischen Staaten. Am 16. Juli zog Madrid seinen Botschafter ab und führte am Morgen des 18. Juli einen Militäreinsatz durch, um die Insel zu sichern und die Besatzer zu vertreiben – die "Operation Romeo-Sierra".

Ein Marokkaner schießt mit einer Steinschleuder auf ein spanisches Schiff.
Foto: Reuters/Boylan

Madrid will unblutige Lösung, Marokko sieht Kriegserklärung

Der Auftrag Aznars an seinen Verteidigungsminister Federico Trillo lautete: So schnell wie möglich handeln und "null Schaden anrichten". Der Einsatz tödlicher Gewalt ist nur für den Fall autorisiert, dass die marokkanischen Soldaten auf die Spanier schießen. Während Trillo von einem "klaren Fall legitimer Verteidigung" sprach, bezeichnete Marokkos Außenminister Mohamed Benaïssa den spanischen Militäreinsatz als "Kriegserklärung".

Mit Hubschraubern wurden 28 Mitglieder der Spezialeinheiten auf Perejil abgesetzt. Die Gewässer um die Insel wurden von fünf Kriegsschiffen und zwei U-Booten kontrolliert. Marokko verfügte hingegen über lediglich ein einziges Marineschiff, die El Lahiq, in dem Gebiet. Die Kommunikation zwischen der Insel und dem Festland wurde elektronisch unterbunden. Spanische Kampfflugzeuge sicherten den Luftraum für den Fall, dass Marokko seine Luftwaffe einsetzt.

Spanien setzte mit Hubschraubern 28 Mitglieder der Spezialeinheiten auf der Insel ab.
Foto: Reuters/Comas

Allerdings wussten die Spanier nicht genau, wie viele Marokkaner sich auf der Insel befanden. Die Zahl wurde auf über zwanzig geschätzt, berichtet der Chef der Hubschrauberstaffel, Vicente León Zafra, viele Jahre später. Der Hubschrauberpilot Fernández Ortiz-Repiso erzählt, durch die Bordkanone des marokkanischen Patrouillenboots das Gefühl bekommen zu haben, "einer enormen Bedrohung" ausgesetzt zu sein. Die Marokkaner setzten Scheinwerfer ein, um die Piloten zu blenden, und machten die Bewaffnung einsatzbereit. "Wenn sie das Feuer eröffnet hätten, hätten wir reagiert. Wir haben uns dagegen gewehrt, weil wir wollten, dass die Operation chirurgisch durchgeführt wird", sagt Ortiz-Repiso. Fernando Jordá Sempere war der erste Spanier, der die Insel betrat. Er rechnete nicht damit, dass die Marokkaner schießen würden. "Ich glaube, dass die Marokkaner nichts tun, ohne Befehle zu erhalten. Vielleicht würde ein spanischer Soldat improvisieren."

Blitzeinsatz

Spaniens Verteidigungsminister Federico Trillo am 17. Juli 2002 im Kongress in Madrid.
Foto: Reuters/Perez

Tatsächlich war der Einsatz binnen Minuten erledigt, alle sechs anwesenden Marinekadetten wurden festgenommen. Nur ein Marokkaner ging hinter einem Felsen in Deckung und zielte auf die Spanier, bevor er sich ergab.

Die Marokkaner wurden nach Ceuta ausgeflogen und der Guardia Civil übergeben, die sie noch am selben Tag zur Grenze nach Marokko brachte. Soldaten der Legión Española ersetzten ebenfalls noch am 18. Juli das Sonderkommando auf Perejil. Die Truppen blieben bis zum Abschluss der Operation.

Am Ende wehte wieder die spanische Flagge auf Perejil.
Foto: Reuters/Boylan

Unter Vermittlung der USA kehrten Madrid und Rabat zum Status quo ante bellum zurück. Die Einheiten wurden von der Insel abgezogen, und beide Seiten halten den Anspruch auf das Territorium aufrecht.

Ziegen als Opfer des Konflikts

Für die Hirtin der Ziegen von Perejil gab es keine Rückkehr zu der Situation vor der marokkanischen Besetzung. Sie klagte die spanische Armee erfolglos auf Ersatz für ihre Tiere, da einige bei dem Einsatz ums Leben gekommen seien.

Einige der Tiere sollen von den marokkanischen Soldaten geschlachtet worden, andere aus Angst vor den spanischen Hubschraubern ins Meer gestürzt sein. Aus Madrider Sicht gibt es keinen Hinweis, dass Spanien für den Tod der Tiere verantwortlich war. Die marokkanischen Behörden wiederum ignorierten Anträge der Hirtin, sich um einen Transfer der Tiere aufs Festland zu bemühen.

Marokkanische Demonstranten an der Küste vor der Insel Perejil halten ein antisemitisches Transparent gegen Spanien hoch, auf dem das Nachbarland mit den Nazis und mit Israel gleichgesetzt wird.
Foto: Reuters/Comas

Migranten als politische Waffe

Dass Marokko weiterhin keinen Respekt für die spanischen Grenzen und damit auch für die Grenzen der Europäischen Union hat, stellt das Land auch nach der Beilegung der Krise immer wieder unter Beweis. Regelmäßig kommt es zum Ansturm von hunderten oder tausenden Migranten auf die Grenzzäune der Exklaven Ceuta und Melilla. Die marokkanischen Behörden sehen dabei weg oder fördern gar die Grenzverletzungen. Marokko benutzt die Migranten in verschiedenen Streitfragen als politische Waffe gegen Madrid. Selbst nachdem Spanien mittlerweile den marokkanischen Autonomieplänen für die besetzte Westsahara zugestimmt hat, kam es zum Sturm auf die Grenzanlagen. Regelmäßig werden dabei spanische Grenzschützer verletzt. Oft kommen beim Versuch, die Zäune zu überklettern oder die Barrieren zu umschwimmen, auch Migranten ums Leben. Erst im vergangenen Juni starben so vor Melilla rund zwei Dutzend Menschen. (Michael Vosatka, 10.7.2022)